Weihnachtsfeier im Schloss

Aus der Zeit des Ersten Weltkrieges

Im Nordwesten, am Fuße des sagenumwobenen Berges gelegen und in einiger Entfernung vom Dorfe, thronte in malerischer Schönheit das herrschaftliche Schloss.

Von der Herrin erzählte man, dass sie ein gutes Herz besitze. Erst kürzlich war sie eigens wieder vom Berge herabgestiegen und übergab einen randvollen Korb mit Esswaren jenen, von denen wie wusste, dass dort Kummer, Sorge und Armut einhergingen und an der Tagesordnung waren. Es gab große Familien, mitunter mit acht, zehn oder gar noch mehr Kindern, im Ort. Viele davon waren durch den Ersten Weltkrieg schon zu Halbwaisen geworden, und noch immer tobte der Krieg in grausamer Härte, so, als wolle er alle Völker verschlingen.

Sie sah mit eigenen Augen, dass die Mütter unter schwersten Bedingungen versuchten, ihre Kinderschar durchzubekommen, und dass dieses sehr oft bis an die Grenze ihres eigenen Zusammenbruches ging. Das Leid und die Not in den Häusern dort unten sie sei nicht kalt.

Immer noch schwebte ihr das Bild vor Augen, als sie im letzten Frühjahr einer jungen Mutter begegnete, die im Begriff war, auf das Feld hinauszugehen. Vier kleine Kinder liefen neben ihr her, das fünfte, noch ein Säugling, hatte sie in einem Tuch auf den Rücken gebunden. An den einen Arm trug sie einen Korb mit Proviant, in der anderen Hand eine Hacke. Der Ertrag aus Feld und Garten war für viele zur zwingenden Notwendigkeit geworden, denn er bewahrte damit die Angehörigen vor dem Hungertod.

Nun hatte die gute Frau, so wie sie es schon in den anderen Kriegsjahren getan, alle Kinder des Dorfes zur Weihnachtsfeier hinauf ins Schloss geladen. Lange Tafeln standen bereit, und an dem prächtigen Weihnachtsbaum, an dem vergoldete Nüsse hingen, waren schon die Kerzen angezündet. Vom Dorf er sah man die winzigen, in dunkle Mäntel und Jacken gehüllten Gestalten durch die Schneemassen sich dem Schloss nähern. Nicht immer boten ihre hohen Schnürschuhe Schutz vor der beißenden Kälte, Bei einigen waren schon Risse im Schuhwerk und die Nässe drang hindurch, und drinnen waren so manche der Strümpflein schon ganz dünn gescheuert. Die Großmutter strickte ja eifrig Strümpfe, aber sei war halt noch bei denen der größeren Geschwister, die täglich in Wind und Wetter hinaus mussten. Für die Kleineren stand noch ein wenig Wartezeit an. Aber vielleicht sah ja das Christkind ihre Bedürftigkeit und gedachte ihrer.

Jetzt jedoch stürmten sie in froher Begeisterung den Berg hinauf. Eins, zwei, drei, flogen auch schon die Schneebälle durch die Lüfte, und so manchen traf es am Kopf und an den Beinen. Einige zogen ihre Wollmützen noch tiefer ins Gesicht oder den Schal noch höher, um das eiskalte Näschen darunter zu verstecken. Wie gut das tat!

Am Eingangstor erwartete sei schon der Schlossherr. Er war französischer Herkunft, fühlte sich aber hier im Eichsfeld recht wohl. Schnell warf er noch einen prüfenden Blick auf das Zifferblatt seiner goldenen Taschenuhr, die er dann in eine kleine dazugehörige Tasche an seiner Hose verstauchte, so, dass nur noch die goldene Kette heraus blinkte.
Die Kinder sammelten sich in einer Gruppe. Begrüßend erhob er beide Arme, schritt ihnen entgegen und winkte sie einladend näher zu sich. Dann geleitete er sie unter den Rundbogen entlang zum Saal rechter Hand. Hier war es gemütlich und warm, das Feuer knisterte in dem hohen eisernen Kachelofen, die Tische waren weiß gedeckt, und der groß Weihnachtsbaum mit den vielen brennenden Kerzen und den goldenen Nüssen zog wie im Märchenland die Blicke der Kinder magisch an. Mit leuchtenden Augen bestaunten sei den stattlichen, reich geschmückten Baum! Ihre Christbäume zu Hause waren klein, und bei manchen stand nur ein Tannenzweig in einem Wasserkrug. Und es roch allhier so gut! Nein, nicht nur nach Tannennadeln, auch nach Backwerk. Immer noch standen die Kinder schüchtern im Eingangsbereich und hielten verschämt ihre Mützen in den Händen, und sei vernahmen die wohlklingende Stimme der schönen Frau: „Kommt nur heran, ihr lieben Kinder.“

Sie stand in einem rosaroten Kleid, das bis auf die Schuhe herabreichte, vor einem Fenster, an welchem von draußen der Weg zu einer Schule führte. Ihre langen, aufgelösten Haare hingen bis weit über ihre Schultern hinab.

Wären noch ein paar Flügel auf ihrem Rücken gewesen, dann hätten die Kinder sie garantiert für den Weihnachtsengel höchstpersönlich gehalten, denn so wunderschön konnte ja eigentlich nur ein Weihnachtsengel sein.

„Legt doch eure Mäntelchen ab, kommt und setzt euch nieder! Da am Tisch steht schon für ein jedes der Kinder ein Stühlchen bereit und auf dem Tisch ein Becher und Ein Tellerchen. Zuerst müsst ihr euch etwas stärken, denn ihr seid ja den langen Weg hier hinaufgekommen und dabei doch sicherlich ein wenig durstig und hungrig geworden. Wenn ihr dann getrunken und gegessen habt, dann singen wir gemeinsam Weihnachtslieder.“ Geheimnisvoll erhob sei den Zeigefinger, streckte ihn in die Höhe, wobei sie leise und flüsternd verkündetet, das Christkind habe wissen lassen, es käme heute noch hier vorbei. Und alle Kinder, die lieb und brav gewesen, gut gehorchten und recht folgsam gewesen, die bekämen feine Sachen, nicht nur Äpfel, Plätzchen, Nüsse und Zuckersachen, sondern auch…“Doch jetzt schnell auf die Plätze!“ Und sei klatschte in ihre Hände. Dann ging sie mit flinken, leichten Schritten zur gegenüberliegenden Tür und zog an einem breiten, gestickten Band: „Bong, bong, bong“, erschallte es.

Nun öffnete sich die Tür ganz weit, und herein traten mehrere Hausmädchen, die weiße Schürzen mit Spitzen ungebunden hatten. Sei trugen Kannen mit Kakao, Schüsseln mit Kräppeln und Teller mit Pfefferkuchenherzen und brachten alles zu den Tischen. Hier gossen sei warmen Kakao in die Becher. Die Schlossfrau forderte nun die Kinder zum Essen und Trinken auf.

Still wurde es im Raum, denn die kleinen Mündchen kauten und schmausten mit sichtbarem Vergnügen. So etwas Gutes hatten sie lange nicht gehabt. Ihnen war es, als habe man sie in den großen Himmelssaal geführt, wo sie sich ohne Scheu nun nach Herzenslust laben konnten. Als alle gegessen und getrunken hatten, kamen abermals die Mädchen und räumten die leeren Kannen, Teller und Becher wieder ab.

Weihnachtslieder wurden angestimmt, und es klang, als würden die Kinder alle ihre Freude mit in den Gesang packen. Aus den kleinen Kehlen erscholl in fröhlicher Runde „Alle Jahre Wieder“ und „Am Weihnachtsbaume“, und beim Singen wurden sei immer schneller und schneller.

„So nun möchte ich doch gern einmal wissen, ob den jemand von eich auch ein schönes Gedicht vom Christkindlein weiß“, fragte mit einem freundlichen Lächeln die Schlossfrau.

Ein wenig errötend meldete sich Mariechen, des Schusters Kind. Mit einer Handbewegung winkte die Herrin Mariechen näher zu sich. Mit kleinen, tippelnden Schritten wagte sich das Mädchen heran, stieg dann auf das Podium, stand straff wie ein kleiner Soldat und legte mit ein wenig zitternder Stimme los:

„Christkindele, Christkindele, komm doch zu uns herein,
wir haben ein Heubündele und auch ein Gläschen Wein.
Für´s Kindele das Gläsele, für´s Esele das Bündele
und beten können wir auch!“

Der rothaarige Franz schubste seinen Nachbarn, den langen, dünnen Jakob, an und flüsterte ihm ins Ohr: „Oder für’s Kindele das Bündele und für das Esele das Gläsele?“ und feixte dabei über das ganze Gesicht. Daraufhin versetzte ihm der spindeldürre, strohblonde Jakob einen derben Tritt unter dem Tisch an sein Schienbein, wobei Franz nur mit großer Mühe einen Aufschrei unterdrückte. Von der anderen Seite hielt ihm sein Tischnachbar, der drahtige Hans, energisch die Hand vor den Mund.

Das fehlte jetzt noch, dass das Christkind diesen Dussel gehört hatte und nun auf einmal mit seinen Geschenken fortblieb und dann die Sachen den Kindern in anderen Dörfern brachte, noch dazu, wo man doch all die Dinge so gut gebrauchen konnte und von nirgendwo was geschenkt bekam.

Mariechen wurde von der Schlossfrau sehr gelobt, und sie fasst das zarte Kind liebevoll an die kleine Hand, hielt sie fest und streichelte mehrfach sanft darüber.

„Horch!“, schon vernahmen sie von draußen ein leises, feines Klingeln, welches immer lauter wurde. Augenblicklich ward es totenstill im Raum, und die Spannung wuchs. Während der einen Augen hell erstrahlten, krochen andere Kinder ängstlich in sich zusammen und sahen benommen vor sich herunter. Dann klopfte es an der Tür, herein kam jedoch nicht das Christkind, sondern die drei älteren Söhne des Schlossherren. Sie alle trugen geflochtene Körbe, die weit über den Rand hinausragend mit Spielsachen gefüllt waren, und stellten die Spielzeugkörbe auf den Fußboden. Ein Raunen ging durch die Reihen, und neugierig erhob sich das eine oder andere Kind vom Patz. Wölfchen, der vierte und jüngste Sohn, hüpfte im Matrosenanzug, von einem Bein auf das andere Bein tretend, hinterdrein. Er hielt eine Flöte an seinem Mund, und es ertönte:

„Heute, Kinder, wird’s was geben…“ Und der Schlossherr trat hinzu und verkündete im lauten und feierlichen Ton, aus dem man ein wenig den ausländischen Akzent heraushörte:

„Das Christkind hat all die Sachen hierher gebracht, denn meine Frau hat einen lieben Brief dorthin gesandt und darinnen herzlich gebeten, für einen jeden von euch etwas zum Spielen bei uns abzugeben. – Nur, das Christkind ist auf seinem großen Schlitten schon längst wieder ins Tal hinab gefahren und hat uns wissen lassen, es müsse sich sputen und hätte noch sehr viel zu tun.“ Lena und Martha, die herrschaftlichen Dienstmädchen, kamen nun hinzu und brachten eine große Wanne, in der eine Menge weißer Leinensäckchen mit einem goldenen Stern lagen, die mit einer Kordel umwunden und zugebunden waren.

Jedes der Kinder erhielt solch ein Beutelchen mit süßem Backwerk, Nüssen und gar feinen Leckereien. Und Wölfchen verteilte mit Wonne all die Spielsachen, die ihm seine großen Brüder hinüberreichten:

Die Holzpferdchen und Gliederpuppen, die Stricklieseln, Brummkreisel und Murmeln, die man schlicht und einfach im Dorfe „Schösse“ nannte, die Bälle und die Trompeten aus Blech, das Puppenbett und das Karussell, Bilderbücher, Puppenkleider, Malpapier, Farbkästen und Stifte.

„Wölfchen, Wölfchen, eine Puppe für meine kleine Schwester Anna, die krank ist“, rief da jemand.

Alle drehten sich um und erblickten Wilm und sahen, wie er sich auf Zehenspitzen immer wieder in die Höhe reckte. Wölfchen reichte ihm eine Puppe im Spitzenkleid hinüber, und der kleine Wilm drückte sie in übergroßer Freude stürmisch an seine Brust.

„Wölfchen, hab’ Dank, tausend Dank!“, rief er laut und warf Wölfchen eine Kusshand zu.

„Danke! Danke!“, und immer wieder: „Danke und frohe Weihnachten!“, riefen jubelnd und laut jauchzend all die anderen Kinder. Und das Lied von der heiligen Nacht drang durch den Saal.

Und so manches Kind sah man strahlend lachen, denn die Schlossherrin verschenkte auch noch schöne Anziehsachen!

Reich beschenkt und hoch beglückt rannten die Dorfkinder zurück; hinaus in die Dunkelheit, manche der Kinder sprangen vor Vergnügen und drehten sich wie die Wirbelwinde im Kreise.

Und dann liefen sei durch Kälte und Schnee und stürmten in ihre Stuben und Kammern und trugen in sei hinein die freudige Kunde von der märchenhaften Weihnachtsfeier droben im Schloss.

Die edel gesinnte, gute und schöne Schlossherrin behielten die Kinder des Ortes selbst dann noch, als sie erwachsen waren, in allerbester Erinnerung. Auch die Körbe mit den Esswaren hatte sie zu bedürftigen Familien während des Ersten Weltkrieges persönlich getragen und zwar dahin, wo die Not am größten und der Vater gefallen war.

Ihr späteres Schicksal war alles andere als gut und schön. Das Schloss ist längst nicht mehr im Familienbesitz. Andere Schlossherren kamen und gingen. Wölfchen, Anna und Wilm und wie sie alle hießen, auch sei sind nicht mehr. Die Bitte um die Puppe für die kranke Schwester Anna ist tatsächlich vorgebracht und erfüllt worden, Wölfchen übergab Wilm die erwünschte Puppe.

Anneliese Blacha
(Quelle: Eichsfelder Spinnstubengeschichten, Duderstadt: Mecke, 2005)