Vom Weihnachtsengel, der seinen goldenen Schuh verlor

Ein Weihnachtsmärchen

Es war einmal, da trafen sich nach vollendeten Weihnachtsbescherungen alle Weihnachtsengel beim Christkind. Voller Freude verkündeten sie, ihre Pflichten gewissenhaft erfüllt zu haben.

Aber nein, sie waren noch nicht vollzählig, einer fehlte! Deshalb konnten sie auch nicht mit den himmlischen Gloriagesängen beginnen. Hocherfreut erblickten sie den verspäteten Engel, welcher sofort versuchte, sich in ihre Reihen zu begeben. Das Christkind schaute ihn jedoch prüfend an. Es merkte sogleich, hier stimmte etwas nicht. So nahm es denn den Weihnachtsengel an der Hand und führte ihn an das Wolkenfenster. „Du hast jemanden vergessen", flüsterte es und wies mit dem Finger hinab zur Erde. Der Engel erbebte. Er sah auf der Erde ein armes, kleines Häuschen ganz in Not und Dunkelheit gehüllt.

„Oh, mein Gott", sagte er tief beschämt und senkte sein schönes Haupt. „Dort ist die Gnade noch nicht eingekehrt, wir können das himmlische Gloria deshalb nicht singen." Trauer erfüllte den Engel, denn er sah, dass ein anderer schon unterwegs war zu dieser Hütte. Es war der Tod, er wollte zu dem armen, kleinen Kind, um es abzuholen, denn ihm fehlte die Gnade der Gesundheit. Daneben lag auf einem Lager aus Stroh die alte, gelähmte Großmutter, und der Engel wusste: „Sie wird ohne das Enkelkind große Not erleiden!" „Verzeihung! Bitte, göttliche Majestät, lassen Sie mich noch einmal hinab, ich vergaß es, aber ich werde es wieder gutmachen, das verspreche ich", flehte der Engel.

„Das wird aber nicht einfach sein, denn bereits sind alle Gnadengaben verteilt. Es gibt nur eine einzige Möglichkeit, du musst dir die Gnade selbst verdienen. Bis jetzt brauchtest du das noch nicht, und es wird schwer, sehr schwer, ganz schwer werden. Bist du dazu bereit?"

Der Weihnachtsengel nickte, und das Christkind führte ihn zur Wolkentür. Er breitete seine goldumsäumten Flügel aus und schwebte hinab und landete vor einem kleinen Haus inmitten von hohen Bergen. Da drinnen erblickte er die gelähmte Großmutter und vernahm ihr lautes Beten:

„Barmherziger Gott im Himmel, bitte lass das Kind nicht sterben, nimm mich, nimm mich dafür! Hab Erbarmen, schicke einen Engel ..." Da stand er denn, der Engel, vor dem Bettchen des Kindes. Als er an sich herunter sah, gewahrte er, dass er keine Flügel mehr besaß. „Einen Apfel, einen Apfel", bat das Kind mit leiser Stimme. Woher nehmen? Überall in der Welt gab es zu Weihnachten Äpfel in Hülle und Fülle und hier keinen einzigen. Betrübt ging der Engel hinaus. Neben dem Häuschen stand ein verdorrter Apfelbaum, und der Engel bettelte: „Bitte, lass an dir Äpfel wachsen." „Das geht nicht, es ist viel zu kalt hier", antwortete der trockene Baum. „Du musst aber, sonst wird das Kind sterben." „Dann gibt es nur eines: Wenn du mit deinen schönen Händen die Wurzeln des Bäumchens, den Stamm, sämtliche Äste und Zweige streichelst, dann erwacht neues Leben in mir. Ich werde dann Blüten und Blätter und herrliche Äpfel hervorbringen. Aber, du darfst kein einziges Fleckchen daran vergessen, ansonsten werde ich auf der Stelle tot umfallen."

Der Engel tat, wie ihm geheißen, und die raue Rinde des Baumes fügte ihm Risse und Schrunden in seine zarten Hände. „Nur nicht aufhören", dachte er und verdoppelte seinen Einsatz, immer eifrig bemüht, keine einzige Stelle unberührt zu lassen. Als er am letzten Zweiglein des Baumes anlangte, entsprossen ihm duftende Blüten, und in Windesschnelle reiften herrliche, rotwangige Äpfel heran. Der Engel griff danach, pflückte sie und trug sie hinein und reichte dem Kind und der Großmutter davon. „Durst, Durst, ein Schlückchen Milch", flüsterte das Kind. Wieder erfüllte ihn große Traurigkeit, ach hätte er doch nur noch seine Flügel! Da war es ihm, als vernehme er das leise Meckern einer Ziege. Siehe, im Ställchen nebenan stand ein braunes Zicklein, nein es stand nicht, es lag matt am Boden.
„Los, stehe auf und gib mir Milch", befahl der Engel. „Mäh, das geht nicht", sagte das Zicklein. „Ich möchte ja, aber ich kann nicht, ich habe Hunger und Durst, morgen früh finden sie mich verhungert. Die Großmutter kann nicht kommen, und das Kind liegt krank danieder, keiner bringt mir etwas, und das Heu ist schon längst alle. Mäh!" „Entweder du gibst mir Milch oder das Kind wird sterben! Wenn du dich nicht beeilst, der Tod wird bald hier ankommen, er ist schon auf dem Wege ..." „Dann tue du doch was, mäh, mäh! Gehe hinaus und rode die Dornen und Disteln, die hinter dem Hause stehen! Lege dich hernach auf die Erde nieder und küsse das Erdreich Stück für Stück. Überall da, wo dein KUSS die Erde berührt, wird saftiges Gras sprießen. Daran fresse ich mich satt, und du kriegst dann so viel Milch, wie du haben willst."

Der Engel ging, bückte sich und zog unter großer Anstrengung die Dornen und Disteln aus dem harten Erdreich. Sie wehrten sich und stachen und es tat weh. Mutig biss er die Zähne zusammen, kniete unverdrossen nieder, neigte sein Haupt, sodass seine goldenen Locken die Erde berührten und küsste den Boden. Einer Erschöpfung nahe erblickte er zu seiner Freude üppiges, saftiges Gras sprießen.

Als er die Ziege dahin führen wollte, weigerte sie sich. Sie habe ja nicht zwei kurze und zwei lange Beine. Wie sie denn an dem Hang stehen solle? Er möge hinabschauen, da unten rausche ein reißender Wildbach. Er solle gefälligst ein Seil holen und sie anbinden! Und nicht so dumm tun, als wenn er kein Seil hätte und nicht wüsste, woher er eins nehmen solle. Seine langen goldenen Haare könne er doch abschneiden und daraus ein Seil drehen und sie daran anbinden!

Dann ginge alles seinen geregelten Gang, mäh, mäh. Der Engel schnitt seine schönen, goldenen Haare ab, drehte in aller Eile das Seil und band die Ziege damit an. Er sah, wie sie weidete, und sie schenkte ihm einen Topf, randvoll gefüllt mit köstlicher Milch. Durstig griff das Kind mit beiden Händen danach und trank mit gierigen Zügen. Auch der Großmutter brachte er einen frischen Trunk.

Das Kind erhob sich und setzte sich auf die Bettkante. „Schau", vernahm er Christkindleins Stimme. „Schau, der Tod ist bald vor der Haustür! Dort kommt er mit den Mädchen in ihren langen weißen Gewändern und den Blumenkränzen im offenen Haar! Sie wollen das Kind abholen! Du kannst ihn nur dann besiegen, wenn du schneller bist als er. Jag ihn so schnell um das Häuschen herum, dass er es nicht schafft, die Türe zu öffnen. Jag ihn, sodass er unverrichteter Dinge von dannen ziehen muss, ansonsten wird er das Kind mit sich hinwegnehmen und alles, was du bisher getan hast, es fließt in dem Strom der Ewigkeit auf und davon."

Und schon stand der Sensenmann vor ihm und fletschte seine gelben Zähne. Den Engel überlief ein eiskalter Schauer. In seinem Innersten vor Bitterkeit aufgewühlt, begann er, ihn zu jagen. Dabei verlor er einen seiner goldenen Schuhe. Ein kurzer Blick, und im Wasser des Wildbaches sah er ihn von dannen schwimmen. Er lief so schnell er konnte, der steinige Boden tat seinem Fuße sehr weh. Atemlos rannte und rannte er. Das Blut aus seinem Fuße färbte die spitzen Steine rot, und der Tod wurde immer schneller.

Nun schien er gar zu erlahmen und glaubte zusammenzubrechen. Mit letzter Kraft schrie er mit lauter, durchdringender Stimme: „Christkindlein, hilf!" und fiel ohnmächtig nieder zur Erde. Recht sonderbar war es ihm zumute und ihm schien, als schaue er in einen Spiegel: Nein, das war er nicht, im fetzigen, zerrissenen Gewand, fransige, zerzauste Haare, einen zerschundenen, blutenden Fuß, am anderen einen goldenen Schuh ohne Sohle! Und ein paar Hände wie ein Schwerstarbeiter, rau und rissig! Nein, das konnte er wirklich nicht sein. Sieht so etwa ein Weihnachtsengel aus?

Aus der Höhe vernahm er auf einmal das himmlische Gloria, und nun begann er zu schweben. Sein Gewand wurde weiß wie Schnee, und seine goldumrandeten Flügel trugen ihn höher und höher hinauf. Zart und weich schimmerten seine Hände. Der Fuß schmerzte nicht mehr, und beide goldenen Pantoffeln waren wieder da! Alles an ihm schien in vollster Ordnung zu sein, so als sei zwischenzeitlich nichts gewesen. Er wandte den Kopf und schaute herab auf die Berge und Wälder, die Städte und Dörfer: Voller Freude erblickte er das Häuschen, in helles, strahlendes Licht getaucht! Drinnen tanzte das Kind mit der gelähmten Großmutter. Sie war wieder gesund und jünger, viel, viel jünger. Ein Jauchzen entrang sich seiner Brust und erfüllte das Sternengezelt. Himmlische Musik drang durch das Wolkenmeer.

Darüber stand thronend im leuchtenden Schein das Christkindlein und schloss den Engel in seine Arme.

Anneliese Blacha