Vollbesetzte Sonderzüge setzen den Schlusspunkt der „Kanonenbahn“
Hunderte von Schaulustigen und Hobbyfotografen hatte es am 30. und 31. Dezember nach Lengenfeld gelockt, um Abschied zu nehmen von der 112 Jahre alten „Kanonenbahn“. Am 30. Dezember hatte man einen Sonderzug für die Bahnhöfe Geismar und Lengenfeld bis Dingelstädt und zurück eingesetzt.
Fast 1000 Menschen wollten sich das letzte Kapitel in der Geschichte der „Kanonenbahn“ nicht entgehen lassen. So waren Muttis und Papas mit ihren Kindern und Omas und Opas mit ihren Enkeln zu dieser Sonderfahrt gekommen. Von vielen Nachbardörfern, aber auch aus weiteren Regionen traf man Bekannte, die bei strahlendem Sonnenschein in Richtung Dingelstädt fuhren.
Sogar der Wissenschaftsminister des Landes Thüringen, Bürgermeister, Pfarrer u. v. andere der Anliegerorte waren dabei. Fotoapparate klickten, Blitzlichter blitzten auf, und es wurden Unmengen von Fotos zum Andenken an diesen „traurig“ stimmenden historischen Tag geschossen. Die „Friedataler Musikanten“ aus Geismar begleiteten den Zug musikalisch und spielten an den Bahnhöfen Dingelstädt, Lengenfeld und Geismar auf.
Als vor 112 Jahren die Bahn ihrer Bestimmung übergeben wurde, stimmte dies unsere Urgroßväter und -mütter bestimmt fröhlicher als der Anlass der heutigen Fahrt. Schließlich hat die Bahn nachweisbar Aufschwung und Wohlstand für die Menschen des Südeichsfeldes gebracht. Heute, im Zeitalter der Schließungen und Stilllegungen stimmt es jedoch die Menschen nachdenklich und traurig. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass Menschen, die mit ihrem Herzblut an dieser Bahn hingen, Trauerflor zum Abschied am Lengenfelder Viadukt anbrachten.
Am Silvestertag wurde zusätzlich zu dem geplanten und schnell ausgebuchten Sonderzug ab Leinefelde – aufgrund der weiteren großen Nachfrage – noch ein zweiter eingesetzt, welcher mit einer Dampf- und einer Diesellok bespannt war. Schon lange vor 10:00 Uhr wimmelte es in Lengenfeld von fremden Fahrzeugen aus aller Herren Länder. Hunderte von Menschen waren an den Hängen der Berge, am Viadukt und am Bahnhof versammelt, um die letzte Fahrt auf Foto oder Video festzuhalten.
Gegen 10:35 Uhr erscholl dann auch das erste „Tu-tu-u-u“ aus dem Buschtal und sogleich kam auch schon die Dampflok der Baureihe 60 mit einem Eigengewicht von 140 t, 25 m Länge zum Vorschein, gefolgt von 12 voll besetzten Personenwagen mit je 34 t mit einer Länge von je 19 m. Am Schwanz des Zuges dann noch eine schiebende Diesellok, Baureihe 203, mit einem Gewicht von 64 t und 14 m Länge.
Vorhandene Sitzplätze ca. für 800 Personen. Die Länge des Zuges rd. 267 m und die Länge der Lengenfelder Brücke 237 m. Gesamtgewicht des besetzten Zuges ca. 660 t. Auch jetzt wurden wieder jede Menge Fotos geschossen. Bemerkenswert wäre noch, dass dieser Zug von „Freunden und Liebhabern“ der Kanonenbahn 33 Minuten am Bahnhof Lengenfeld durch Blockade der Strecke außerplanmäßig festgehalten wurde. Ein Zeichen dafür, dass man sich nur ungern von dieser „landschaftlich“ schön gelegenen Streckenführung der Kanonenbahn trennt, zumal die Region für den Fremdenverkehr erschlossen werden soll. Man befürchtet, dass die „Ruine Bischofstein“ Pate stehen wird nach der Stilllegung! Man spricht amtlicherseits von Baufälligkeit des Viaduktes in Lengenfeld und daher auch von einer Millionensumme für die Sanierung. Umso mehr verwundert es die Teilnehmer und Schaulustigen dieses Tages, dass ein Gesamtgewicht des Zuges von fast 700 t die Brücke passierte!
„Da kann‘s doch mit der Baufälligkeit nicht so weit her sein“, resümierten hellhörige Fahrgäste und Lengenfelder Bürger.
Am Nachmittag, gegen 13:45 Uhr kam der gleiche Sonderzug nochmals vollbesetzt von Leinefelde und es wiederholte sich das gleiche Schauspiel. Ganz Lengenfeld mit Kind und Kegel war an diesem Silvestertag auf den Beinen. Noch lange wird man über dies nicht gerade „erfreuliche“ Erlebnis reden, das tausendfach im Bild festgehalten wurde.
Der Verfasser befragte daher die Bürger Josef Schollmeyer und Hans-Jürgen Russ, welche jahrzehntelang die „Kanonenbahn“ benutzten, um ihre Arbeitsstelle zu erreichen.
Frage: Wie lange sind Sie auf der Kanonenbahn gefahren?
Josef Schollmeyer: Ich fuhr von 1955 bis 1991 fast täglich nach Dingelstädt.
Hans-Jürgen Russ: Seit 29 Jahren fahre ich und muss auch in Zukunft mit dem Schienenersatzverkehr nach Dingelstädt zur Arbeit.
Frage: Welche Gedanken haben Sie, wenn ab 1. Januar 1993 die Kanonenbahn nicht mehr fährt, und was bewegt Sie besonders?
Josef Schollmeyer: Die Medaille hat 2 Seiten. Einesteils bin ich sehr traurig, dass diese Bahn, welche von unseren Urgroßvätern erbaut wurde, verschwinden soll. Es war zur damaligen Zeit eine große Errungenschaft. Andererseits ist die Bahn in einem sehr desolaten Zustand.
Hans-Jürgen Russ: Es tut mir an der Seele weh, dass eine so schöne und tunnelreiche wie auch brückenreiche Strecke geschlossen wird. Unser Viadukt ist ein Magnet im Aufbau des Tourismus gewesen. Leider fällt dies in Zukunft weg. Das dürfte sich für unseren Ort sehr negativ auswirken.
Frage: Hätte es Ihrer Meinung nach auch eine andere Lösung als die der radikalen Schließung gegeben?
Josef Schollmeyer: Das ist schwer zu sagen, zumal auch die Reichsbahn derzeitig kein Konzept unterbreitet hat, was nach der Stilllegung mit den Tunneln, vor allem mit der Brücke in Lengenfeld geschehen soll. Traurig bin ich schon wie viele Lengenfelder über die Stilllegung.
Hans-Jürgen Russ: Vor 29 Jahren, als ich das erste Mal auf dieser Strecke fuhr, hatte man schon vor, diese zu schließen. Bis 1970 wurde ständig an den 5 Tunneln gebaut und die Strecke in Ordnung gehalten. Warum hat man die letzten 20 Jahre nichts mehr getan? Ein Triebwagenzug hätte die Tunnels und auch die Viadukte entlastet.
Frage: Haben Sie ein besonderes Erlebnis auf der Kanonenbahn gehabt?
Josef Schollmeyer: Das schlimmste Erlebnis war, welches tödliche Folgen hätte haben können, als in den 70er Jahren der Zug mit 100 Sachen ohne Lokführer über die Brücke in Lengenfeld sauste. Der Zugführer war zwischen Großbartloff und Bischofstein von der Lok gefallen und niemand hatte es bemerkt. Eine beherzte Schaffnerin brachte den Zug hinter der Brücke zum Stillstand. Erst da merkten wir, dass kein Lokführer mehr auf der Maschine war. Uns zitterten vor Schreckensangst alle Glieder.
Hans-Jürgen Russ: Dies schönsten Erinnerungen habe ich an die Anreise der Urlauber nach Schloss Bischofstein. Man lernte immer wieder andere Menschen kennen, Sachsen, Thüringer, Berliner, Mecklenburger usw. Oft erkannte man sie schon an ihrem Dialekt. Diese waren so begeistert von der idyllischen Strecke zwischen Dingelstädt und Geismar.
Frage: Das Fremdenverkehrsamt Lengenfeld hat die Möglichkeit einer Abschiedsfahrt am 30. Dezember geschaffen. Nehmen Sie daran teil?
Josef Schollmeyer: Ich nehme persönlich an dieser letzten Fahrt mit einigen Enkeln teil, um ihnen ein bleibendes Erlebnis zu schaffen.
H. J. R.: Der Wegfall der Strecke stimmt mich traurig, mir wurde ein großer Lebensabschnitt genommen, daher nehme ich nicht teil!
Vielen Dank, meine lieben Freunde, für das Gespräch und alles Gute in Ihrem weiteren persönlichen Leben. Dem ist nichts hinzuzufügen.
Willi Tasch
(Quelle: „Obereichsfeld-Bote“, Nr. 1+2 vom 15.01.1993)
Abschied von der „Kanonenbahn“
Ein graues Stahlross, nun schon alt,
die Kanonenbahn wird stillgelegt, nun bald/
Vor 112 Jahren das Licht der Welt erblickt,
jetzt man sie in die» Wüste" schickt.
Erbaut aus dem Gold des 70er Kriegs,
sollte wichtig sein für die Strategie.
Drum wurd‘ sie „Kanonenbahn“ auch genannt,
im ganzen deutschen Lande so bekannt.
In friedvollen Jahren hatte sie ihre goldene Zeit,
viele Menschen fuhren mit ihr zur täglichen Arbeit.
Nach Eschwege, Dingelstädt und Leinefelde,
nach Nordhausen, Halle in weite Welten.
Nach dem 1. Krieg ihr ein Gleis „amputiert“,
im „Vertrag von Versailles“ wurd‘s dokumentiert.
Und im Mai ‘45, da sollt‘s noch gescheh‘n,
durch »Sprengen« sollt sie in die Lüfte gehn.
Doch mutige Männer verhinderten diesen Wahn,
es konnte weiterfahren die Kanonenbahn.
Unser Vaterland aber in der Mitte geteilt,
die „Kanonenbahn“ auch hier vom Schicksal ereilt!
In Geismar war nun die Endstation,
gleich nach 1945 schon.
Bei „Walter“ und „Erich“ auch oft umstritten,
doch immer konnten wir sie wieder retten.
Der Güterverkehr, schon lange eingestellt,
doch Personenzüge rollten täglich über Lengenfeld.
Und machte der Zug im Buschtale „Tu-tu-u-u-u“,
dann wusste man, wieviel zeigt an die Uhr.
Für manchen Fremden ein wahres Wunder,
schaute er vom Zug über die Brücke ins Dorf hinunter.
Ihr lieben Lengenfelder, das eine ich Euch sag,
man schätzt erst das, was man nicht mehr hat.
Drum ist es schad‘, wie so oft im Leben,
unsere liebe „Kanonenbahn“ wird‘s nicht mehr geben.
In des Menschen Lebenslauf, auch oft das gleiche,
bist Du alt und verbraucht, dann musst Du weichen.
Aufs Abstellgleis oder auch Altenheim,
muss so mancher dann hinein.
Wohnung, Karriere, Erfolg lassen es nicht zu,
elegant abschieben, dann hat man seine Ruh‘.
Doch das kleine Gewissen, vom „lieben Gott“ eingepflanzt,
das regt sich später, so leise ganz.
Drum alle, die liebgewordenes „Altes“ abschieben“
sollten daran denken, es waren meist unsere „Lieben“.
Dies gilt für alle Lebensbereiche,
mahnt uns die „Kanonenbahn“, mit ihrem letzten Lebenszeichen!
Mach's gut! Du alte und treue „Kanonenbahn“,
der Zahn der Zeit hat genagt, wie ein Wahn.
Es rechnet sich nicht, sagen die Herren der „Marktwirtschaft“,
so wird auch manches Gute abgeschafft.
Diese Zeilen fielen mir zur „Abschiedsfahrt“ ein, zum 30. Dezember 1992.
Willi Tasch
(Quelle: „Obereichsfeld-Bote“, Nr. 1+2 vom 15.01.1993)