Unter einer grünen Lind'...
Gerade so die Zeit, wenn weißer Blütenschnee die Kirschbäume allenthalben und somit auch im Friedatal deckt und die Wälder ihr Maiengewand anhaben, haben die drüben im Kirchdorf Hildebrandshausen ihre „kleine Kirmes“. Die übersieht so leicht keiner rundum in den Dörfern, denn so „klein“ wird das Fest gar nicht abgehalten. Zumal das junge Volk geht in Scharen hinüber zum Aufspiel und fröhlichem Tanz unter der grünen Lind’, die da weitästig den Anger überspannt und grad’ die Zeit im schönen, hellgrünen Maienkleide prangt und prunkt. Es ist diese Kirmes, die im Volksmunde auch „Spanschleuchkärmesse“ getauft ist, jeweilig den ersten Maiensonntag, also wenn die Welt am schönsten ist.
„Spanschleuchkärmesse“ ist eine Anspielung auf den grad’ die Zeit für die Kirmesküche so geeigneten und derohalben in allen Gärten meiner Dorfheimat gepflegten Winterporree. Wenn ich nun auch grad’ an dieser Stelle keine „praktischen Winke“ für die Küche geben will, so will ich es dennoch nicht unterlassen, euch zu raten: Pflanzt Spanschlauch. Es schmeckt gut zum Zickelbraten. Und glaubt ihr es nicht, so geht nach Hildebrandshausen. Dem jungen Volk aber sage ich: Geht hinüber auf die Freite – aber auf Umwegen, über den Klingenberg, sonst gibt’s Keile. Doch dem Mutigen gehört die Welt, somit auch Hildebrandshausen. Was zu beweisen ist dadurch, dass schon manche Hildebrandshäuser Maid herüber gefreit hat und manche Lengenfelder hinüber. Doch da bin ich bereits wieder aus dem Bereich der grünen Lind’ geraten. Dahin also zurück.
Da drüben die sind uns gegenüber entschieden im Vorteil. So einen rechten Anger, wie drüben das freundliche Dörfchen in der Talmulde zwischen „Kessel“ und „Plesse“, hat meine Dorfheimat nicht mehr aufzuweisen. Der alte Baum, der da einst inmitten des Angers stand wie ein traumversunkener Greis im Wintertag und wie ein lebensfroher, williger Jüngling im Lenz, ist längst der Axt zum Opfer gefallen. Den paar Dorfarmen, die in der Gasse, die zum Friedhof führt, in den schiefen Häuserchen mit den geflickten Schiebefensterlein ihre Tage verbrachten, wunsch- und freudlos, denn die Straße, wo sie wohnten, führte zum Kirchhof, mag das Holz der alten, gefällten Angerlinde noch ein wenig Wärme gespendet haben, für die alten Tage – und möglicherweise auch Erinnerung an vergangene Dorfheimatjugend, – an Stunden unter der grünen Lind’.
Da, wo einst der Dorfanger war, steht heute ein nüchtern dreinschauender Tanzsaalbau. Gesetzt den Fall nun, die alte Angerlinde schlüge nun an derselben Stelle, wo sie einst gestanden, frische Wurzeln und Schosse, die hindurchtrieben durch den glatten Parkettboden, so stände sie mitten im Saale, wie ehemals mitten auf dem Anger und die heutige Jugend würde um sie tanzen. Gesetzt den Fall, das geschähe. –Dann wäre es wohl um die Linde wie einst? –
Ich meine nicht. Nein, es wäre nicht wie ehemals. Denn, wie war es da? Da ragte nordwärts eine aus Findelsteinen errichtete, etwa drei Meter hohe Mauer, in deren Spalten und Ritzen Rotschwänzchen brüteten. Den Abschluss bildete das oval-runde Angerplateau, südwärts wiederum abgeschlossen von einer etwa zweieinhalb Meter hohen Mauer, die die unmittelbar oberhalb vorbeiführende abfällige Kirchbergstraße stützte und abdämmte. Links und rechts dieser Mauer führten Steinstiegen hinab zum Anger und eine dritte hinauf, da wo jetzt der Saalhaupteingang ist. Am Westende des Angers stand noch eine Linde, die gut einen Durchmesser von 1 ½ Meter hatte und deren Beschaffenheit auf ein noch wesentlich höheres Alter schließen ließ, als die eigentliche, in der Mitte stehende Angerlinde, die nur etwa ¾ Meter Stammdurchmesser und bei der Fällung noch einen gesunden Stamm hatte.
Auf dem nördlichen Mauerpodium nahmen, wenn die Burschen mit Musik aufmarschiert waren, wir Dorfjungen Platz. Sitzgelegenheit war der Mauerabschluss. Die Beine baumelten frei. Unterhalb der Mauer hatte sich die damals ortsansässige Dorfkapelle platziert. Diese Musikantentruppe war ein beredter Zeuge eichsfelder Frohwanderblutes. Unter Leitung ihres Kapellmeisters war sie auf ihren Touren bis nach Österreich, Russland, zum Kaukasus und in andere Länderstriche gekommen. Die Zeit, so will ich hier bemerken, hatte auch einer von hier ein Karussellunternehmen. Die Tragik fahrender Leute wollte es, dass er irgendwo, wo er gastierte, bei einem Ritt vom Pferde stürzte und den Tod fand. Da brachten sie die grünen und gelben Wagen heim. Ehe jedoch das Unternehmen in andere Hände überging, baute seine Witwe auf dem „Plan“ zum letzten Mal das Karussell auf zur Kirmesbelustigung der Dorfkinder. Das Unglückspferd zog mit schwarz verhängtem Zügel das Karussell und hoch zu Ross protzten wir Dorfjungen. Die Orgel aber spielte ein wehmütiges Scheidelied: „Nun ade, du mein Lieb Heimatland.“ Was aber wussten wir damals von der Tragik fahrender Leut?
Doch nun wieder in den Bereich der grünen Lind’. Da ließen die Musikanten ihre Tanzweisen erschallen über die tanzenden Paare hin. Aber das große Tubahorn des alten Kapellmeisters, in das ich mich verliebt hatte mit der ganzen Keckheit eines Dorfjungen, ragte mit seiner weiten Schallöffnung zu uns herauf und das „Wuppapa, Wuppa-wuppapa“ quoll schmelzend aus dem weiten Metallrachen des Ungeheuers zu uns herauf. Da stand es denn bei mir fest, dass ich einmal Musikant würde. Dieser meiner Neigung hat man nur insofern Rechnung getragen, dass man mich „nach Noten“ verprügelt hat. Das hat wesentlich zur Stimmbildung beigetragen. Wäre ich früher darauf gekommen, so wäre ich Sänger geworden – oder Auktionator. Übrigens ist unserem Hause einmal, wie es im Festevangelium zur Kirmes heißt, „Heil widerfahren“.
Nun haltet euch fest, jetzt kommt’s. Da hatte der alte Kapellmeister sein Riesentubahorn während des Kirmeshochamtes bei uns untergestellt, da wir in der Nähe der Kirchen wohnten. Die Kapelle hatte die Kirmesburschen zur Kirche gespielt und das Horn wäre unnütz in der Messen, meinte der Kapellmeister. Ja, da war’s für mich ein rechtes Opfer diesmal, zur Kirchen zu gehen. Dann noch was. Die Krämerbarbe borgte gar den Tag noch unsere Ziegenfalltür, damit sie ihre Süßigkeiten darauf ausbreiten konnte. Ja, den Tag war ich stolz wie ein Platzmeister, von denen ich übrigens die Meinung hatte, sie müssten nun jeden Augenblick platzen. Das taten sie nun nicht. Aber anderes, allerdings weniger Ungeheuerliches geschah. Die Kirmesmädchen brachten Berge von fettem Kirmeskuchen herbei und opferten sie den edlen Jüngern der Frau Musika. Wenn die Musik nicht spielte, dann nahm sie Kuchen zu sich, wenn sie auch dieses nicht tat, so trank sie Bier und rauchte und tat sie dieses nicht, so spielte sie.
Das alles ließ sich von der Mauer her, wo wir Dorfjungen auf unseren ausgebreiteten Schnäuztüchern hockten, gut übersehen. Kam auch vor, dass ein besonders Fürwitziger, zu denen ich Gott sei Dank nicht gehörte, herabkollerte zwischen die Spielleute. Dann gab es Schrammen und Beulen und setzte Ohrwatschen ab, die noch weniger ehrend waren, als die in und nach der „Schlacht am Heiligenberge“ vom Feinde (den Hildebrandshäuser Dorfjungen) erhaltenen Blessuren. Solche Lokalkriege beruhten auf Gegenseitigkeit und der Streit wurde „vom Zaune gebrochen“ in des Wortes wahrster Bedeutung. Auf der Hildebrandshäuser und auf der Lengenfelder großen Kirmes war Krieg auf Grund einer Tradition von den Vätern her. Ursula bringt uns die große Kirmes. Die Hildebrandshäuser halten sie zwei Wochen früher. Um die Zeit ist die Feldfrucht, abgesehen von den bittergalligen Gelbbirnen, die noch hie und da an den Bergrainhängen an den Bäumen sitzen, herein. Sachschaden entstand somit nicht und es war eine Zeit, wie geschaffen zum Krieghalten. Niederlagen erlitten beide Parteien.
Uns Lengenfelder Dorfjungen kam diese jedoch erst montags in der Schule zur Einsicht. Denn, spielten die Musikanten auf den nahen Anger dem Aufmarsch: „Wir schlagen tüchtig drein“, so machten die Lehrer den Text an uns zur grimmen Wahrheit und herz- und ohrenzerreißende Szenen huben an. Die Schulpflicht am zweiten Kirmestag aber wurde zum Trauerspiel. Darum, um Himmelswillen, ihr Jungen meiner Dorfheimat, grabt das längst vergrabene Kriegsbeil nicht mehr aus. Es gibt eure Niederlage – Ja – wenn die alten Dorflinden noch ständen! Aber jetzt sind andere Zeiten und in anderes müsst ihr euch schicken. So mögt ihr in friedlichen Sportkämpfen euch messen.
Aber einer Erinnerung ist wert, was einst war unter der grünen Lind’. Die alten Tanzweisen, die doch so gut passten zum Kirmestanz auf dem lindenbeschatteten Anger – man hört sie nicht mehr. Und waren doch so schön, die „Schott’sche“ (Ländler), Walzer und Rheinländer, zu denen ich als Dorfjunge so leicht den Text fand, „Hopsa, Marieannchen dreh’ dich mal rum und dum – Hopsa, Marieannchen dreh’ dich mal rum.“ Oder: „Stiefel musst sterben – bist noch so jung, jung, jung.“ – „In Rixdorf ist Musike, da tanzt die lahme Rieke.“ „Put, put put mein Hühnchen“ – und „Mariechen saß weinend im Garten . . .“ Ja, das waren ehemals die Schlager und die sang man denn auch winterabends in den Spinnstuben.
Die „Kirmeserstlinge“ aber baten sich oft einen hübschen „Schottsch“ aus vom Kapellmeister. Den konnten sie schon mal riskieren. Das Mädchen, das einen „Korb“ gab, konnte vom Anger gespielt werden. Tanzte eines „ohne Ehr“ auf dem Anger, so wurde mit einem Strohfeuer der Anger ausgebrannt. Schön soll die Kirmes das Jahr gewesen sein, wie der Stoppelignaz sein 25-jähriges Angerbuschenjubiläum gefeiert hat. Wie ein König, so stolz, hat er seinen Angeraufzug gehalten und keinen Pfennig hat ihm diese Kirmes gekostet. Folgende Kirmes aber ist er nicht mehr dabei gewesen, weil er sein Kirmesmädchen geheiratet hatte. Des Naz Mutter soll da jedoch gemeint haben, so jungerweis’ hätte brauchen der „Junge“ nicht zu freien, denn er wäre noch nicht „trocken hinter den Ohren“.
Und nun noch eine kleine Geschichte aus dem Bereich der grünen Lind’. Ich wollte, es wäre eine lustige. Aber es ist eine traurige. Sie ist lange her. Ich habe sie von dem alten Kunze, der über die achtzig ist. Da wäre ein altes, sonderbares Weib hier gewesen, das hätte im Armenhaus gewohnt. Er könne sich nicht erinnern, wo sie hergekommen war in unsere Gemeinde. Aber so viel sei festgestanden, dass die Alte den Wahn hatte. Närrische Geschichten seien umgegangen über die alte Zischka. Die einen wollten wissen, die Zischka sei die verstoßene Geliebte eines ungarischen Grafen, die anderen, ihr schwarzer Kater könne in Menschenlauten reden um die Mitternacht. Die Zischka hätte den Burschen und Mädchen die Zukunft prophezeit. Glauben taten sie ja der Alten wohl nicht viel; aber um der Kurzweil halber nahmen sie die geheimnisvolle Kunst der Alten dennoch in Anspruch.
Wie nun wieder einmal Kirmes gewesen, sei die Alte an den Anger gekommen. Der Schützenpeter, der Übermütige, sei nach einem Tanz mit seiner Braut herzugetreten zu der Zischka. Das Mädchen, die Lina, sei das schönste im Dorf gewesen. Der Schützenpeter wollte die Zischka ulken und verlangte die Zukunft von der Wahrsagerin. Die Alte sei starr dagestanden. Da sei ein falbes Lindenblatt von der Linde gefallen, gerade auf der Lina Haar. Die Zischka aber habe unheimlich die Augen gestiert ins Unwesenhafte und habe über den Anger geschrien:
„Es fallen die Blätter – die Linde stirbt. Bald kommt ein Freier – der um dich wirbt.“ Dann ist die Zischka fortgerannt und hat sich eingeschlossen.
Das Mädchen, die Lina, hat sich eine Lungenentzündung zugezogen und ist daran gestorben. Eine Woche später, auf Allerseelen, haben sie es begraben. Freier Tod hatte um die Lina geworben. –So zerbrechlich ist oft des Jugendfrohsinns und des Glückes dünne Schale.