Sitten und Bräuche in Lengenfeld

Wenn ich im Folgenden über Sitten und Bräuche meiner Dorfheimat schreibe, so sind nur die aufgeführt, dich ich im letzten Halbhundert kannte und miterlebte. Wie lange diese Sitten und Bräuche vordem schon waren, entzieht sich meiner Kenntnis und ich weiß nur, dass wir sie von den Eltern und Großeltern so übernommen und weitergeführt haben und so wird es auch ehedem gewesen sein.

Am 22. Februar, auf Peterstag, bestand die Sitte des Nistelns. Unter irgendeinem Vorwand, wie: „Wall en bisschen spälle kumme“ und dergleichen kamen Nachbarn und Verwandte in die Stube und schütteten Laub, Spreu, Sägemehl usw. aus und verschwanden sofort wieder. In meiner Zeit war diese spaßige Sitte nur noch selten und schon im Vergehen begriffen.

Fetten Donnerstag wurde getöppert. Leise wurde die Tür geöffnet und ein abständiger Steinguttopf (Nesseltippen, Mustippen) ins Haus geworfen. Manche warfen auch eine Wurst mit hinein. Der Bringer vermied, erkannt zu werden und verschwand sofort wieder. So hatte auch mancher Dorfarme seine Wurst zum fetten Donnerstag. Der Sinn dieser Sitte mag wohl auch noch eine andere Bedeutung gehabt haben.

Nach der Schneeschmelze begann für die Dorfjungen das beliebte Schoßspiel. Schösse- das sind gebrannte Lehmkugeln, der Schießschoß war gewöhnlich eine etwas größere Glaskugel. Das Schießen hatte eine besondere Spielregel. Jeder Dorfjunge trug während der Spielsaison immer einen gefüllten Schoßbeutel in den Taschen mit herum, um jederzeit zu einer Aufforderung zum Spiel bereit zu sein. Die Aufforderung bestand in dem Zuruf: „Picks Ehrder!“ (Erster). Auch diese Sitte gehört der Vergangenheit an.

In den letzten Tagen der Karwoche, so lange die Glocken in trauerndem Schweigen verstummen, laden die Dorfjungen mit Holzklappern die Einwohner zum Kirchgang ein. Dies ist auch heute noch so, wenn auch neben Klappern die früher mitgeführten Schnattern und Rasseln fehlen. Die Schnattern waren drehbare Holzinstrumente.

Am Abend des zweiten Ostertages brannten auf den heimatlichen Höhen die Osterfeuer. Wochenlang vorher schleiften die Dorfjungen alle Dörner aus der Flur zu einem großen Haufen zusammen. Auch Reisigwellchen wurden bei den Einwohnern gesammelt und gern gaben die Leute ihren Beitrag zum Osterfeuer. Jeder Ortsteil hatte sein eigenes Feuer. Die Keudelsgässer hatten ihr Feuer am Hasenborn, die Schafhöfer am Schafhofgelände, die Kirchberger auf dem Küppchen, die Oberländer über dem Dorfe. Männer überwachten und schürten die Brände und die am Feuer versammelten Einwohner sangen fromme Osterlieder. Burschen und Mädchen beschenkten sich gegenseitig mit bunten Ostereiern. Seit ungefähr 30 Jahren brennen keine Osterfeuer mehr.

Am Nachmittag des dritten Ostertages zog die Dorfjugend in den lenzenden Wald zur Gänsetelle (ist eine alte Köhlerstätte gewesen). Hier wurde bei Harmonikamusik gesungen und getanzt. Einige Burschen spielten auf einem kleinen Stückchen Birkenrindenschale und verschönerten damit das Harmonikaspiel.

In der Walpurgisnacht hissten die Burschen auf der höchsten Kiefer auf der „kleinen Kuppe“ eine Flagge. Diese blieb so lange am Platze, bis Sturm und Wetter sie vernichtet hatte. Dieser Brauch dauerte nur einige Jahrzehnte. Aber einer Erinnerung ist er wert; denn schön waren die Maienabende auf der schroffen Felswand, unter wehender Fahne im jungen Waldesgrün und beim Singen alter Volks- und Heimatlieder.

In der Pfingstzeit war Schützenfest. Da wurde nach dem traditionellen Schützenvogel geschossen. Alte Trophäen wie Flügel, Kopf, Rumpf, Krone, Szepter oder Schwanz hängen noch heute als Wahrzeichen eines treffsicheren Schützen an manchem Scheunentor. Den Sommer hindurch war es still im Dorfe. Wie sollte es denn auch anders gewesen sein, denn die Ziegler waren zu ihren Arbeitsstätten ins Rheinland und in die Hannoversche Gegend gewandert. Viele junge Mädchen befanden sich auf den Spargelplantagen in der Braunschweiger Gegend. Die Handelsleute hausierten in allen Gegenden Deutschlands und der Bauer hatte voll zu tun mit der Feldarbeit.

Zur Kirmes aber kamen die Dörfler gern wieder auf einige Tage heim, um im Kreise der Familie und in alter Dorfgemeinschaft das Fest zu feiern. Den alten Anger habe ich nicht mehr gekannt. Auf ihm steht heute der Gemeindetanzsaal. Auch einen zweiten Tanzsaal hatte Lengenfeld. Dies war der Saal der damaligen Gastwirtschaft „Zur Krone“. Inhaber Juliana Hardegen (heute Buchhandlung Hardegen). In dem Saal ist heute eine Zigarrenfabrik. Auch eine Dorfkapelle unter der Leitung des beliebten Kapellmeisters A. Müller war im Dorfe ansässig.

In jedem Herbste, wenn die Zwetschen reif waren, wurde in jedem Hause Mus gekocht und da roch es im Dorfe nach Musgewürz und duftigem Fruchtsaft. Bis spät in die Nacht hinein wurde fleißig Mus gerührt. Am Abend kamen Burschen und Mädchen und halfen die Muskrücke drehen. Wenn dann das Mus gar war, wurde noch ein Stündchen bei Kaffee und Kuchen (Isen- und Steinkuchen) gefeiert. In damaliger Zeit gab es in Lengenfeld bei dem großen Bestand an Zwetschenbäumen reiche Ernten. Waggonweise kauften auswärtige Händler die Früchte auf. Viele Zentner Zwetschen und Birnen wurden auch für den eigenen Bedarf getrocknet (Hozel un därre Quatschen). Zu diesem Zwecke standen einigen Dorröfen zur Verfügung. Der letzte Ofen stand in Mählersch Garten am Hasenborn.

Nach Michelstag bestand folgender Brauch: Obst, was bis dahin noch an den Bäumen hing, durften die Jungen für sich Pflücken. Auf den Wiesen und Weiden, sofern sie nicht durch Strohwische gekennzeichnet waren, durfte jeder hüten, so lange er wollte.

Kamen dann die langen Spätherbst- und Winterabende, dann wurden die geselligen Spinnstuben abgehalten. Gemütlich saßen Nachbarn und Verwandte zusammen, die Spinnräder schnurrten und leise klapperten die Stricknadeln in den fleißigen Händen der Frauen und Mädchen. Um den Zylinder der Petroleumslampe zog die Schlupfwespe oder ein Mottenkäfer seine Kreise. Im Kachelofen knisterte brennendes Holz und spendete eine angenehme Wärme. Draußen hinter den Schiebefenstern und geschlossenen Fensterläden heulte der Sturmwind oder klatschte der Regen im Rinnstein. Der alte Birnbaum auf dem Hofe schüttelte sich und knarrend rieben sich seine Äste. Aus der Scheunenluke unter dem Giebel rief ein Käuzchen sein „Keiwitt“ in die dunkle Nacht.

Alles passte so recht zu den Spuk- und Waanergeschichten, die drinnen erzählt wurden. Da war dem Schäferhannes der Schlapphannjesmann begegnet, der Holzhauer Andres hatte den wilden Jäger im Forst gehört; der Weber-Franz hatte bei der Waanereiche sein Erlebnis gehabt und bei der schwarzen Brücke wäre es auch nicht geheuer gewesen. Einen anderen hatte ein leuchtender Erwisch in die Irre geführt. So war der erste Teil des Abends verstrichen und nun begann der gemütliche Teil des Spinnstubenabends. Spinnräder und Strickzeug wurden beiseite gelegt und man labte sich an Kaffee und Kuchen. Dann wurden Volksspiele aufgeführt und fröhliche Volks- und Heimatlieder gesungen. Schnell war der Abend vorübergegangen und man rüstete sich zum Heimgang. Einladungen zum nächsten Spinnstubenabend wurden noch bekannt gegeben.

Die alte Sitte des Neujahrssingens besteht auch heute noch. Früher sangen auch Erwachsene bei Verwandten und Bekannten.

Den Alten im Dorf werden meine Ausführungen nichts Neues bedeuten. Doch mögen sie eine schöne Erinnerung an froh verlebte Jugendzeit bei ihnen wachrufen. Der Jugend sollen sei einen Einblick in das Leben der Dorfheimat ihrer Eltern und Großeltern geben. In diesem Sinne habe ich diese, meine bescheidenen Ausführungen geschrieben.

Nachtrag:
Im Nachtrag möchte ich noch von einem Kegelspiel, welches auf dem alten Anger geübt wurde, berichten. Ich erfuhr es von einem alten Einwohner und halte es der Mühe wert, es noch zu erwähnen. An der Angerlinde hing ein langer Strick, woran eine Kugel befestigt war. Diese wurde in einer Entfernung von dem aufgestellten Kegelsatz zurückgezogen und dann losgelassen. Die am Strick hängende Kugel schnellte dann im schwebenden Schwunge zwischen die aufgestellten Kegel.

Heinrich Richwien
(Quelle: Lengenfelder Echo)