Schloss Bischofstein im August 1945 - Ein ehemaliger Schüler erinnert sich (1989)

Zum Autor des Textes[1]  

Helmut Bauer wurde im Jahre 1910 geboren und besuchte ab Ostern 1923 das Internat „Schloss Bischofstein“ im südlichen Eichsfeld. Hier fand er bis zum Ablegen des Abiturs im Jahre 1931 eine neue Heimat. Nach Beendigung der Schullaufbahn begann Bauer ein Ingenieurstudium in München. Seine praktische Ausbildung als technischer Kaufmann folgte in Berlin bei verschiedenen Firmen. Der „kühnste Dachkletterer Bischofsteins“ war beim Aufbau von Antennen-Systemen auf Hochhäusern in Berlin (u. a. Kunstministerium) als Experte gefragt. Bei den Urlaubsfahrten zum heimischen Familiengut Heiligenrode bei Eisenach versäumte er es nie, bei Ripkes auf Schloss Bischofstein vorbeizuschauen.

1941 zu einem Infanterieregiement eingezogen, nahm er als Soldat an Kampfhandlungen in Russland teil und wurde mehrfach verwundet. Ein im Körper wandernder Granatsplitter zwang 1944 zur Entfernung des rechten Auges. Sofort nach Kriegsende besuchte Helmut Bauer seine einstige Internatsstätte im Südeichsfeld. Dieser Besuch nahm jedoch eine schicksalhafte Wendung, wir Bauer in seinem nachfolgenden Bericht ausführt.

Im August 1945 wurde der Autor völlig willkürlich von russischer Polizei im Schloss Bischofstein verhaftet und mit vielen Leidensgefährten im Fußmarsch zum KZ-Lager Buchenwald bei Weimar gebracht.

Einer sowjetischen Ärztin, die die Gefangenen vor dem Abtransport nach Dnjepropetrowsk untersuchte, kamen angesichts des in der Hosentasche aufbewahrten Kunstauges Bedenken, ob Helmut Bauer für Bergwerksarbeit geeignet sei und ließ ihn laufen.

Hiernach fand Bauer fand in Frankfurt/Main eine neue Heimat und arbeitete als Generalvertreter von Mercedes-Benz in der Mainmetropole.

Auch schloss er dort mit alten Bischofsteinern enge Freundschaft und war mit deren Firmen teilweise beruflich verbunden. Nach 1946 arrangierte Bauer in Frankfurt/Main sogenannte „Bischofsteiner Abende“. Seit 1952 stand er in einem engen Briefwechsel mit Dr. Ripke und wagte auch immer wieder riskante Besuche über die immer stärker befestigte Grenze, später reiste er auch mit dem Auto ins Sperrgebiet.

Vielfach hielt Bauer seine Erinnerungen an das frühere Internatsleben auf Schloss Bischofstein als Autor zahlreicher Beiträge in den „Bischofsteiner Rundschreiben“ fest, deren Schriftleitung er gemeinsam mit Reiner Kürbs von 1965 – 1978 übernommen hatte.

Nachdem Helmut Bauer an allen Bischofsteiner Treffen seit 1947, welche auf westdeutschem Boden ausgetragen wurden, teilgenommen hatte, besuchte er auch nach dem Mauerfall die alljährliche Zusammenkunft der Ehemaligen an ihrer alten Wirkungsstätte. Letztmalig reiste er 1995 zu einem „Bischofsteiner Treffen“ ins Eichsfeld.

Am 2. Februar 1997 verstarb Helmut Bauer in Hannover im Alter von 87 Jahren und wurde dort im kleinen Kreis beigesetzt.

Oliver Krebs
Ortschronist in Lengenfeld unterm Stein

Schloss Bischofstein im August 1945 – Ein ehemaliger Schüler erinnert sich[2]

Frau Dr. Ripke war in Hochform, als ich Anfang August 1945 nach Bischofstein kam. Sie und Rpk[3] waren glücklich, wieder in der Wohnung im alten Schloss zu sein und nicht mehr in der Bollmann‘schen Wohnung hausen zu müssen.

Zudem war Frau Dr. dabei, den 20. August[4] vorzubereiten, der diesmal zu einem besonderen Fest nach dem beendeten Krieg werden sollte. Die Russen hatten jetzt auch Thüringen besetzt und durchkämmten mehr oder weniger systematisch Dorf für Dorf. So kamen sie auch nach Bischofstein. Ich lag in der ersten Etage des alten Schlosses im Bett, als gegen 6 Uhr morgens ein russischer Soldat mit einem Unteroffizier in mein Zimmer kamen. Der Soldat herrschte mich an: „Aufstehen, aufstehen, mitkommen, mitkommen!“ Ich sammelte meine besten russischen Flüche zusammen und drehte mich zur Wand, um weiterzuschlafen. Der Unteroffizier jedoch trat an mein Bett und kippte es um. Nach dieser Attacke blieb mir nichts anderes übrig, als mich aus Decken und Kissen zu befreien und aufzustehen.

Es folgte der Befehl: „Anziehen, anziehen, mitkommen, mitkommen!“ Ich wurde abgeführt und landete im Dorf auf dem großen Hof von Steinwachs. Zu meinem Erstaunen war dort fast die ganze männliche Bevölkerung Lengenfelds versammelt, darunter auch der Schweizer von Bischofstein und Prof. von Knorr, nur Hans Schmidt-Neuhaus fehlte. Ein bleicher, unsicherer Rpk stand zwischen den russischen Soldaten und musste dolmetschen. Nach mehrmaligem Abzählen wurden wir in Gruppen von 8–10 Mann eingeteilt und marschierten Richtung Hildebrandshausen, bewacht von 8 maschinenpistolenbewehrten Russen. Ich wurde mit 3 anderen Dorfbewohnern aus Lengenfeld auf einem Hof in eine Speisekammer eingesperrt. Sie war reich bestückt mit Würsten, geräuchertem Schinken und Eingemachtem. Obgleich wir bis jetzt nichts gegessen hatten, machte sich keiner von uns an die kaum noch gekannten Köstlichkeiten heran, obgleich die Mägen knurrten.

Nach geraumer Zeit wurden wir aus der Speisekammer befreit und mußten auf dem Hof antreten. Ein freundlicher und jovialer russischer Major hielt in Deutsch eine Ansprache und eröffnete uns, wir kämen nach Dnjepropetrowsk[5], um die zerstörten Gebiete wieder aufzubauen. Schöne Aussichten!

Die auf über 100 Mann angewachsene Crew setzte sich in Richtung Effelder in Bewegung. Die Marschkolonne zog sich immer mehr auseinander, so daß die Bewacher größte Schwierigkeiten hatten, alle zusammenzuhalten. Der Bischofsteiner Schweizer bekam einen Herzanfall und fiel am Rande der Straße nieder. Daraufhin veranlaßten die Russen, ihn aufzunehmen und mitzutragen, wozu 4 Mann abkommandiert wurden. Natürlich ging das sehr langsam vonstatten, so daß sich die Kolonne immer mehr auseinanderzog. Schließlich befahlen sie, ihn am Wegrand liegenzulassen. Und wir marschierten weiter gen Mühlhausen.

Dort kamen wir am Nachmittag an. Wir wurden zum Gefängnis geführt, doch das war bereits besetzt. Weiter ging es zur Kreisleitung: auch sie war überbelegt. Schließlich landeten wir in der im 3. Stock gelegenen Aula einer Schule. Ich schätze, daß wir dort mindestens 150 Mann waren. Russische Wachmannschaften standen unten im Hof und schossen hin und wieder durch die Fenster in unsere Behausung. Um Kräfte zu sparen, verzog ich mich in die äußerste Ecke der Aula und legte mich auf meiner mitgenommenen Zeltbahn zur Ruhe. Die Ruhe wurde leider häufig gestört, weil der für uns zuständige russische Kommissar hin und wieder im Saal erschien, mit einer Pistole in die Decke schoß und schrie: „Wer ist Antifaschist und Kommunist?“ Ich weiß nicht mehr, ob sich jemand meldete, jedenfalls beschloß ich, keine Notiz von dem Theater zu nehmen. Doch mußte ich mich um Professor von Knorr kümmern, der voller Verzweiflung beschlossen hatte, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Es gelang mir, ihn davon abzubringen. Er wurde noch in Mühlhausen wieder entlassen.

Die Russen hatten in unseren Saal polnische Spitzel eingeschleust, die die Aufgabe hatten, zur Einschüchterung hin und wieder einige von uns zur Vernehmung in einem Nebenraum dem Kommissar zuzuführen. Fast immer kamen die Leidtragenden jämmerlich zugerichtet zurück. Eines Tages kam ich an die Reihe. Der Kommissar musterte mich und fragte:

„Kannst Du Schnaps besorgen?“, eine Frage, auf die ich wirklich nicht gefasst war. Ich antwortete bejahend und dachte an Lengenfeld. „Was brauchst Du dazu?“ „Geld, ein Motorrad und Sprit dazu“, antwortete ich. Der Kommissar überlegte einen Augenblick, musterte mich von oben bis unten – ich hatte mein Glasauge in der Tasche -, schüttelte den Kopf und wies mich wortlos zur Tür hinaus. Der Kelch schien an mir vorübergegangen zu sein.

Kaum war diese Prozedur beendet, kamen zwei Soldaten zu mir. „Hast Du Uhr? Gib her!“ Irgendjemand hatte mich verpfiffen, denn ich war der Einzige, der noch eine Uhr hatte: Alle hatten mich laufend nach der Zeit gefragt. Meine Uhr lag unterhalb des Knies in den Knickerbockern[6]. Ich weigerte mich, da sie sowieso schon rechts und links an den Handgelenken jeweils drei oder vier Armbanduhren hatten. Zu meiner großen Überraschung fingen sie jetzt an, um die Uhr zu bitten. Ich überlegte:

„Was bekomme ich für meine Uhr?“ „Ich will Verpflegung haben – und zwar Brot, Butter, Wurst, Käse und Zigaretten!“ Nicht im Traum dachte ich daran, dass meine Wünsche erfüllt würden. Sie nickten aber lächelnd mit dem Kopf und meine Uhr wechselte den Besitzer. Welch‘ Wunder: Nach geraumer Zeit erschienen die beiden wieder mit mehreren Paketen: In reichlichem Maße bekam ich das Gewünschte.

Tags darauf – es war etwa der 10. Tag meiner Gefangenschaft – fuhren Lastwagen auf dem Schulhof vor. Wir wurden abtransportiert. Man hatte die Lastwagen in Mühlhausen und der weiteren Umgebung beschlagnahmt. Etwa 1500 Mann wurden auf den zahllosen LKW verstaut. Keiner durfte sitzen, alle mussten knien. Als Wachmannschaften auf meinem LKW saßen – man hält es nicht für möglich – meine beiden Uhrenfreunde. Ich erklärte, ich könne nicht knien und saß als Einziger neben den Russen auf irgendwelchen Säcken.

Vor der Abfahrt hatte der Kommissar erklärt, wenn einer einen Fluchtversuch unternehme, würden zehn Mann erschossen. In langsamer Fahrt erreichten wir Langensalza. Die Bevölkerung stand an der Straße und warf uns Brot und Blumen zu. Daraufhin schossen die Russen Salven in die Luft und die Straßen leerten sich blitzartig. Ein 19-jähriger ehemaliger Soldat, der aus dem Elsass stammte und dessen Frau nach Langensalza evakuiert worden war, verlor die Nerven und sprang von dem vor uns fahrenden LKW. Der Kommissar ließ halten, zwei Soldaten spannten einem Bauern die Pferde aus und ritten dem Flüchtling nach. Unverständlicherweise lief er schnurgerade in ein Feld hinein, statt Bogen zu schlagen. Die Wachmannschaften begannen zu schießen und trafen ihn mit zwei Streifschüssen. Er wurde zurückgeholt. Ich hörte den Kommissar sagen: „Den erschieße ich jetzt“ – und schon war es durch einen Genickschuss geschehen. Eingeschüchtert und deprimiert warteten wir darauf, was nun passieren würde. Es geschah nichts – und wir fuhren weiter.

Es scheint eine glückliche Veranlagung zu sein, dass meine kleinen grauen Gehirnzellen nur die positiven Seiten des Lebens registrieren. So habe ich z. B. niemals von meinen Russlanderlebnissen geträumt, auch nicht von den Granaten der „Stalin­Orgel“[7], in deren Einschlagsgebiet ich lag.

Wie ich zum KZ Buchenwald kam, weiß ich heute nicht mehr, weiß nur noch, dass ich mit erhobenen Armen und nacktem Oberkörper vor einer russischen Oberstabsärztin stand. Sie musterte mich von Kopf bis Fuß und sah das Fehlen des rechten Auges. „Nasad pascholl!“[8], sagte sie nur und ich landete in einer Zelle von der Größe 1,5 mal 2,0 m mit Lehmfußboden. Einziges Inventar war ein Benzinkanister. Ziemlich erschöpft fiel ich in einen erquickenden Schlaf. Am nächsten Morgen öffnete sich die Zellentür und ein Soldat führte mich an einen langen Tisch, auf dem alle Dinge, die man uns abgenommen hatte, fein säuberlich ausgebreitet waren – natürlich mit Ausnahme meiner Uhr. Es fehlte nichts.

Wie ich nach Effelder und schließlich nach Lengenfeld kam, kann ich heute nicht mehr rekonstruieren. Etwa am 19. August 1945 – einen Tag vor dem 20. August – kam ich als vollbärtiger Mann nach einem langen, beschwerlichen Fußmarsch wieder nach Lengenfeld. Als ich das Oberdorf erreicht hatte, öffneten sich in vielen Häusern Fenster und Türen. Eine Flut von Fragen brach über mich herein: Jeder wollte wissen, was aus den verschleppten Männern geworden sei. Man steckte mir Brot und Eier zu, wofür ich den Lengenfeldern heute noch dankbar bin.

Ripkes empfingen mich mit freudiger Überraschung, aber in gedrückter Stimmung. Das große Fest zum 20. August[9] war abgesagt worden, die Lengenfelder ausgeladen. Die Knorr‘sche Familie war wieder beisammen.

Einige Tage später brachte mich Anton Hartmann auf Schleichwegen mit einem Pferdefuhrwerk nach Frieda[10] in den Westen.

Helmut Bauer
(Schüler im Internat Schloss Bischofstein von 1923 – 1931)
(Quelle: „Bischofsteiner Rundschreiben“, Weihnachten 1989, S. 16 – 17)

Fußnoten

[1] Die Informationen beruhen auf einem Nachruf zu Ehren Helmut Bauers, der im „Bischofsteiner Rundschreiben“ des Jahres 1997 (S. 2-3) veröffentlicht wurde.

[2] Bemerkung des Autors: In Erinnerung an Alexander Solschenizyns Buch „August Vierzehn“ habe ich dieser Niederschrift vermessenerweise den Titel ‚August Fünfundvierzig‘ gegeben.

[3] Rpk: Kürzel und interne Bezeichnung des zweiten Internatsleiters Dr. Wilhelm Ripke (1886 – 1965).

[4] 20. August: Geburtstag des Gründers der Internatsschule, Dr. Gustav Marseille (1865 – 1917), zu dessen Ehren in jedem Jahr ein großes Fest aller aktiven und ehemaligen Schüler auf Schloss Bischofstein gefeiert wurde.  

[5] Heutiges Dnipro, mit einer Million Einwohner nach Kiew, Charkiw und Odessa die viertgrößte Stadt der Ukraine.

[6] Bezeichnung für eine etwa wadenlange Überfallhose mit weiten Beinen, die von Männern und Frauen gleichermaßen getragen werden kann.

[7] Deutscher Name für den sowjetischen Mehrfachraketenwerfer „Katjuscha“, der während des Zweiten Weltkrieges entwickelt und eingesetzt wurde.

[8] Zu Deutsch in etwa: „Marsch zurück“.

[9] Vgl. Anm. 2.

[10] Ortschaft im Werratal auf westdeutscher Seite.