Schloss Bischofstein 1945

In diesem Jahr gedachten alle Massenmedien der Ereignisse, die vor 35 Jahren die Welt veränderten. Es erscheint angebracht, einen Rückblick zu tun auf die Erlebnisse, die Wilhelm und Hedwig Ripke in Bischofstein 1945 hatten, deren Auswirkungen dazu führten, dass das Kleinod unserer Jugendjahre für die meisten von uns in unerreichbare Ferne entschwand.

Als sich die Neujahrsnacht 1945 über dem alten Schloss im Eichsfeld wölbte, gab es in allen Familien nur bange Sorge um die Zukunft und um die Lieben, die an den nahe an die Grenzen herangerückten Fronten standen. Zwar war diese abseitige Gegend nicht von den Bombern verheert worden, deren Geschwader, angekündigt von schrillen Sirenen im nahen Wanfried, fast täglich ungestört ihre Bahn zogen. Aber der Krieg mit seinem Grauen war doch allgegenwärtig.

Dr. Ripke hatte sich, seitdem ihm die Leitung der Heimschule genommen worden war, ganz der Landwirtschaft Bischofsteins gewidmet. Er fühlte sich dem kargen Boden, den Tieren und Pflanzen so verbunden, dass er diesen Teil seines Lebens nicht mehr missen mochte.

„Alle Erschwernisse werden reichlich aufgewogen durch die Freuden, welche die Betätigung in der Landwirtschaft bietet: die Arbeit auf der liebgewordenen Scholle, der im Einklang mit dem Ablauf der Jahreszeiten stehende innere Lebensrhythmus, die ständige Berührung mit der Erde, die Verbindung mit den Menschen und Arbeitskameraden, die derselben Sache dienen, der Umgang mit den Tieren, die Erhaltung der körperlichen Widerstandskraft durch die in jeder Jahreszeit und bei jeder Witterung erfolgende Art der Betätigung.“

Seitdem auch der Verwalter Thomas Kaufhold eingezogen war, lag die Last der Betriebsführung allein auf Ripkes Schultern. Die 30-jährigen Erfahrungen des treuen Heinrich Riese waren ihm dabei eine große Hilfe.

Die Menschen, die damals in Bischofstein lebten, schlossen sich enger zusammen. Zu den Alteingesessenen waren mehrere Familien gekommen, die hier aus den zerbombten Städten Zuflucht gesucht hatten. Für sie alle half das Besinnen auf die unzerstörbaren Werte der Kultur über die Trübnis der Stunde hinweg.

Ripke nahm seine unvergesslichen literarischen Abende („Littis“) wieder auf, und Hans Schmidt-Neuhaus, der mit einem Zweig der staatlichen Hochschule für Musik in Frankfurt hier gelandet war, veranstaltete mit seiner Frau und seinen Schülerinnen wunderbare Konzerte.

Der Winter 1945 war diesmal auch im rauen Eichsfeld recht milde mit wenig Schnee. Zeitig kam die Frühjahrssaat in den Boden. Der Zusammenbruch der Fronten war seit Anfang März unaufhaltsam. Über die Begebenheiten in Bischofstein berichtete Frau Ripke in der Weihnachts-Chronik 1945:

„Am Karfreitag brachten wir unsere wertvollsten Sachen in den Keller und richteten diesen zum Aufenthalt ein. Sonnabend kamen 150 Fallschirmjäger nach Bischofstein, die aber bald weiterzogen. Am Ostermontag früh hörten wir plötzlich im Hof Englisch sprechen. Wir denken schon: die Amerikaner! Aber es sind gefangene Engländer; die aus ihrem Lager in Spangenberg hierher gebracht wurden. Über 100 Mann. Am Abend fährt der letzte Zug vorbei. Seitdem ist keiner mehr durchgekommen, da die Brücken bei Frieda und Küllstedt ganz zerstört sind. Am Dienstag hörten wir, Wanfried und Eschwege seien besetzt. Artilleriefeuer auf den Höhen über uns weg. Als ich Mittwoch im Dorf bin, ruft man mir plötzlich zu: die Amerikaner kommen von Hildebrandshausen her! Ich laufe nach Hause. Am Nachmittag kommen sie mit ihren Panzerwagen und besetzen das Dorf. Am nächsten Morgen erscheinen sie auch in Bischofstein. Freitag: die Amerikaner machen Einmannlöcher in unseren Feldern und ziehen zum Stein hinaus. Heftiges Schießen. Zwei verwundete deutsche Fallschirmjäger werden von dort heruntergebracht. Später finden wir zwei tote deutsche Soldaten gleich unterhalb des Steins und zwei weitere weiterhin auf der Höhe. Sie liegen auf dem Lengenfelder Fried­hof begraben. Sonnabend: Schwere Kämpfe in Struth. Der Himmel ist blutrot vom Widerschein des Feuers. Viele Höfe und Scheunen sind niedergebrannt. Sonntag: der große schöne Kastanienbaum an der Ecke beim Doktorhaus wird von den Amerikanern gefällt, ein Geschütz dort aufgefahren, Wegsperren werden gebaut. Montag: das Schießen lässt nach. Nur ein Geschütz auf dem Schlossberg sieht noch drohend ins Dorf hinab, aber auch das verschwindet bald, ebenso die Wegsperren. Am Donnerstag, dem 19. April heißt es: das ganze Schloss für die Amerikaner räumen! Alles, was noch zur Heimschule gehört, zieht ins Dorf, in das Schulgebäude dort. Uns wird erlaubt, in Kaufholds (ehemals Bollmanns) Wohnung überzusiedeln, weil sie einen besonderen Ausgang hat. Den Amerikanern hat es aber bei uns nicht gefallen. Sie zogen es vor, sich nach Wanfried auf den Kalkhof zu Scharfenbergs zu begeben. Wir sind trotzdem in unserer neuen Behausung geblieben. Sie hat zwei Vorzüge: ihre niedrigen Zimmer sind leicht heizbar, und sie liegt unmittelbar bei den landwirtschaftlichen Gebäuden. Die Heimschule hatte sich inzwischen von selbst aufgelöst. Lengenfeld erhält eine amerikanische Besatzung von 100 Mann. Es kommen tagtäglich Scharen von Amerikanern her­auf, um in unseren Baderäumen zu baden. – Anfangs Mai sieht man die ersten Flüchtlingsfamilien in Bischofstein einziehen. Aus allen Teilen Deutschlands kommen sie. Wieviel Jammer und Elend, aber auch wieviel Heldenmut und innere Größe! Wie tragen diese Menschen ihr schweres Schicksal! Man wird ganz still vor Bewunderung und Ehrfurcht.“

Die Flüchtlinge wurden zumeist in den alten Schülerbuden untergebracht. Jeweils eine Familie fand eine Bleibe dort, wo früher 2 – 4 Jungen ihr Reich hatten. Mittags kochte Käthchen Günther (die spätere Frau Groß), die schon vorher der großen Küche der Heimschule vorstand, für die mehr als hundertköpfige Schar der Heimatlosen.

Einer Sorge war Ripke allerdings ledig. Die Flüchtlinge fassten bei den Feldarbeiten tüchtig zu, noch nie waren die Pflege- und Erntearbeiten so schnell erledigt. Frau Ripke organisierte derweil für die große Kinderschar einen Kindergarten. Tische und Bänke wurden für die Kleinen abgesägt, die Wände mit den noch vorhandenen Schülerzeichnungen dekoriert und bald lief alles programmgemäß. Schon wurden die ersten Theateraufführungen inszeniert, zunächst „Die Puppenfee“ und die „Pantomimischen Szenen“, später „Hänsel und Gretel“. Alle waren mit Begeisterung dabei. Mit den besten Möbeln eingerichtet, erlebte das frühere Kasino herrliche Konzerte des Ehepaars Schmidt­Neuhaus.

In dieser Zeit gab es noch keine Versorgungsschwierigkeiten, zumal die großen Versorgungslager von den Amerikanern freigegeben wurden. Das Leben normalisierte sich recht bald. Aber es gingen Gerüchte um über einen Besatzungswechsel. Man glaubte jedoch den anderslautenden Erklärungen der amerikanischen Soldatensender.

So waren denn alle sehr verblüfft, als sich am 1. Juli auf der Straße von Hildebrandshausen her ein langer Zug von Planwagen heranwälzte und endloses Pferdegetrappel die Luft erfüllte. Unbemerkt waren im Morgengrauen die wenigen amerikanischen Jeeps nach Wanfried hinübergefahren. Eine russische Einheit zog auch in Bischofstein ein. Die Wagen standen rings um das Schloss, die Pferde wurden im Hof gefüttert, die Mannschaften kampierten im Freien und schliefen nachts auf dem harten Zementboden des Dreschschuppens. Überrascht waren die Russen, so fern ihrer Heimat in Ripke einen Menschen zu finden, der ihre Sprache perfekt beherrschte. Als Dolmetscher konnte er in der ersten Zeit der einheimischen Bevölkerung vieles Missliche ersparen helfen. Zu einigen der oft wechselnden Kommandanten fand er ein sehr gutes Verhältnis. Einem, dem er im Anschluss an lange Verhandlungen seine Künste mit der „Faulhaber-Blatter“ vorgeführt hatte, rang er sogar die Erlaubnis ab, während der Rehbrunst auf Blattjagd zu gehen. Mit einem Soldaten zog er früh los und kam nach langem Fiepen schließlich auf einen Sechserbock zum Schuss. Mit dem Karabiner des Soldaten legte er ihn auf die rote Decke, das letzte Jagderlebnis eines begeisterten Jägers. Der Russe ließ ihm nicht nur die Trophäe, sondern auch das Wildbret zur Bereicherung der Küche.

In Bischofstein war in diesem Sommer und Herbst ein ständiges Kommen und Gehen. Viele Menschen waren auf der Suche nach ihren Angehörigen und letzten Habseligkeiten. Die nahe „Demarkationslinie“, die erst später zu einer Grenze wurde, die Welten trennt, zog natürlich viele alte Bischofsteiner an, hier den Übergang zwischen den Besatzungszonen zu wagen. Anfangs war dies beinahe noch öffentlich möglich, später wurde es zu einem nicht unriskanten Abenteuer. Von diesen Besuchern – die ersten waren Rudi Brühl, Frieder Schippert und Harald Schulte – bekamen Ripkes auch Kunde von den Schicksalen vieler ihrer früheren Schüler. Die Ende Juli zunächst unregelmäßig in Gang kommende Post brachte weitere Nachrichten. Wie viele Kameraden gaben noch in der letzten Phase des Krieges ihr junges Leben oder kehrten später aus der Gefangenschaft nicht heim.

Das Jahr verging wie im Fluge. Die Ernte war geborgen, die Wintersaat in der Erde. Noch drückte nicht das Ablieferungssoll, das später Ripke so große Probleme bringen sollte.

Was aber sollte aus Bischofstein werden? Ripke dachte zunächst an ein Heim für Kriegswaisen, die hier ihre Heimat und ihre schulische Ausbildung erhalten sollten. Zeitweise war auch eine Pflegestätte für Musik und andere Künste im Gespräch.

Dr. Walter Lindemann, ein früherer Lehrer, der in Bielefeld ausgebombt, zwei Jahre lang in Bischofstein Zuflucht gefunden hatte und jetzt Regierungsrat im Thüringischen Landesamt für Volksbildung in Weimar war, vermittelte schließlich eine neue Aufgabe: Bischofstein wurde eine Pädagogische Fachschule für künftige Lehrer der russischen Sprache. Die neuen Bildungspläne sahen vor, dass Russisch als erste Fremdsprache schon in der Grundschule gelehrt wurde. Durch mancherlei Schwierigkeiten verzögert, nahmen am 23.09.1946 75 Männer und Frauen in Bischofstein die 10 Monate dauernde Ausbildung auf. Täglich gab es 8 Stunden Unterricht. Ripke selbst war mit 28 Wochenstunden voll eingespannt. Er mühte sich redlich, den Fachschülern diese schwierige Sprache nahezubringen. Im grimmigen Winter 1946/1947 opferte er 1 ½ ha besten Waldbestandes, um die planmäßige Durchführung des Lehrganges in dem mit Heizmaterial nicht versorgten Schloss zu ermöglichen. Umso enttäuschter war er, als die Militärverwaltung Ende Mai 1947 die Fachschule entgegen den Wünschen der Kursisten und des Lehrkörpers nach Dingelstedt verlegte, da dort eine bessere politische und kulturelle Betreuung möglich sei.

Seit dem 1. Juni 1948 wurde dann Bischofstein, wieder durch Vermittlung von Dr. Lindemann, Ferien- und Erholungsheim der Lehrergewerkschaft im FDGB.

Doch zurück zum Jahresende 1945. Als der Winter herankam, machte das Schloss den Eindruck eines riesigen Kraken. Aus allen Fenstern ragten rauchende Ofenrohre in den winterlichen Himmel. Da die Zentralheizung mangels Kohle nicht mehr eingesetzt werden konnte, hatte sich jede Familie einen Ofen organisiert. Unmengen an Holz waren herbeigeschafft worden, auf allen Fluren lag es sorgfältig aufgestapelt. Alles richtete ein großes gemeinsames Weihnachtsfest vor mit Aufführungen und selbstgebastelten Geschenken für die Kinder. Die Menschen, die hierher verschlagen waren, begingen eine erste Friedensweihnacht in besinnlicher Gemeinsamkeit.

Zum Schluss seien noch Ripkes Gedanken, niedergelegt in der Weihnachts-Chronik 1945, wiedergegeben:

„Dass es auch in Bischofstein nie mehr so werden wird wie früher, diese Gewissheit darf uns nicht dazu verführen, einer verlorenen Vergangenheit, mag sie auch noch so schön gewesen sein, nachzutrauern; denn immer noch war es so, dass nur der die Gegenwart meistert, der die Zukunft mehr liebt als die Vergangenheit. In Gleichgültigkeit oder Tatenlosigkeit zu versinken, wäre heute angesichts der gewaltigen Aufgaben, die unserem Volke gestellt sind, der Tod für uns. Nur die tapfere Erkenntnis, dass wir ganz stark verschmelzen müssen mit dem ungeheuerlichen Schicksal unseres Volkes, für das jeder einzelne mitverantwortlich ist, kann uns dafür reif werden lassen, aus den Trümmern des Alten ein Neues, innerlich Neues erstehen zu lassen, für das es sich wieder lohnt zu leben. Nur dann sind die, um die wir trauern, nicht vergeblich gefallen, wenn die Überlebenden gläubig davon erfüllt sind, dass sie nicht vergeblich leben, sondern wert sind des Lebens, das ihnen die Toten als Vermächtnis hinterlassen haben.“


(Quelle: Bischofsteiner Rundschreiben, Weihnachten 1980, S. 7 – 9. Originaltitel: „Vor 35 Jahren“)