Südeichsfelder Silvestergebräuche einst und jetzt (1926)

„Schön ist die Jugend bei frohen Zeiten …!“ So singen wir Alten bei fröhlichen Anlässen. Es ist dies Lied unser Leibstückchen, das uns zurückversetzt in die frohen Jugendtage. Ja, wie haben wir uns damals zusammengefunden zu Spiel und Tanz! Und des Jahres bewegte Runde gab uns gar oft Anlass zu heiterem Treiben. Einer der schönsten, anheimelndsten Tage, der wirklich poesievolle Stunden hervorzauberte, war der Silvesterabend.

Es mögen nun schon ungefähr 40 Jahre dahingeeilt sein, als wir in den Jugendtagen auch mit dabei waren. Im elterlichen Hause waren Schulkameraden und Freundinnen bei der Bowle dämpfendem Gebräu versammelt. Wie klangen da die Gläser, und wie erschallten die ewig jungen Volksliedchen hinaus aus der Stube Enge in die winterliche Stille! Auf dem Herde brannte lustig die Flamme und brachte den Schmelztiegel mit Bleistücken zur silberhellen Flut.

Da schlug des Jahres letzte Stunde; schnell wurde durch des Schlüssels Ring die brodelnde Bleimasse gegossen. Zischend fiel sie auf des Wasserbehälters flachen Grund, und der zierlichen Figürchen reizende Ausstattung prophezeite manch rotglühendem Mägdelein Beruf und Stellung des so heiß Ersehnten. Wie wurde da gescherzt und gelacht, und die Alten schauten vergnüglich drein und gedachten ferner Jugendzeiten. Nach dem ersten „Prosit Neujahr!“, das die Jüngeren den Älteren herinniglich boten, zogen die herangereiften Burschen vor das Schulzenhaus, zu Pfarrer und Lehrer und brachten in sanglicher Fassung recht manierlich ihre Neujahrswünsche dar. Der Führer brachte ein Hoch aus, und nachdem er die kleine Gabe entgegengenommen, zieht der kleine Zug hin vor Liebchens Haus, wo schon würziger Kaffee und zuckerbestreute Kräpfel auf festlich einladendem Tische den Willkommensgruß winken. So vergingen die ersten Stunden des neuen Jahres – draußen vor dem Tore krachten wohl noch einige Schüsse – sonst schritt der Wächter durch Straßen und Gassen und verkündete feierlich ernst die neuanrückende Zeit.

Immer noch klingt in mir in meinen alten Tagen das Neujahrslied der Burschen im Ohr, das stimmungsvoll ins neue Jahr herüberschallte:

Wir gratulieren Euch zum neuen Jahr, zum neuen Jahr;
Wir wünschen Euch viel Glück und Segen‘
und nach dem Tod das ew'ge Leben, das geb‘ Euch Gott!
Solange wir ihn kennen,
so wollen wir ihn nennen,
es lebe der Herr X.
Ein Hundsfott, der ihn schimpfen tut.
Solange wir ihn kennen ...

Wie rasch sind doch diese stimmungsvollen Zeiten verrauscht! Neue Menschen und neue Sitten sind gekommen. Da treibt sich heute die Dorfjugend johlend und schreiend auf Gassen und in dunklen Winkeln herum. Schon am Nachmittag des Silvestertages setzt das neuzeitliche Silvesterfeiern ein. Vereinzelte Schüsse krachen. Bei eintretender Dunkelheit geht‘s erst recht los. Knallfrösche und Schreckpistolen, alles muss herhalten, um dem alten Jahre den Garaus zu machen. Die älteren Semester sitzen in den Schenken und tuen sich wohl am göttlichen Spiritus.

„Da schlägt vom Turme die 12. Stunde.“ Gleich einem Irrenhause setzt nun das tolle Treiben ein. Neujahrsglückwünsche aus heiseren Kehlen durchschwirren die Luft. Gassenhauer und Soldatenlieder werden durch die Dorfstraßen geschrien. Dazwischen krachen aus selbstgefertigten Rohren Böllerschüsse, die in engen Gassen abgefeuert die schlafenden Bürger arg erschrecken. Unter dem Torbogen der Wirtschaft stehen die „reiferen“ Burschen. Ein ehemaliger Kanonier hat sich das Torhaus als Deckung gewählt. Die „Kanone“ ist schussfertig, und mit nervenbetäubendem Schall brüllt sie‘s hinaus und zu all den Schläfern, die nicht nach dieser neuen Manier die Jahreswende begehen. Jedes Anstandes und Taktes bar, fragen sie nichts nach der Dorfbewohner Ruhe, fragen nichts nach dem Kranken, der durch die Böllerschüsse so jäh erschreckt. Sie beherrschen die Stille der Nacht.

Zusammengebundene Knallfrösche belvern um die Wette und erhöhen die gehobene Feststimmung. Und nun schwärmen Scharen kleiner Jungen, kaum der Schule entlassen, durch die dunklen Gassen, schreien die althergebrachte Neujahrsweise herunter in der Meinung, den schlafenden Dorfbewohnern auf diese Weise ein gesegnetes Neujahr zu wünschen. Und kaum ist die Weise heruntergebrüllt, dann rufen sie stürmisch nach Wurst oder Geld. Und Wehe, wer ihnen nicht auftut! Das Tor oder Staket ist am nächsten Morgen Zeuge bitterer Rache. –

Früher, von Herzen kommende, taktvoll gesungene Neujahrsweisen, - heute, ein Verwünschen der Stunde, die in so hässlicher Weise herabgewürdigt wird. – Und stundenlang hallt das Gebrülle wildgewordener Scharen über das sonst so stille Dörfchen, ankündigend, dass der erste Tag des neuen Jahres nach moderner Manier begangen. Was werden die übrigen Tage bringen?!

Autor: unbekannt
(Quelle: Eichsfelder Volksblatt, Ausgabe vom 12.1.1926)