Quer durchs Eichsfeld - Erinnerungen an Jugendtage in Geismar und Lengenfeld unterm Stein (1926)

Dort, wo der Hase seine Jugend verbracht hat, zieht es ihn immer wieder hin, so erzählt man sich. Ob es wahr ist, kann ich nicht beurteilen, da mir alle Eigenschaften abgehen, die den Jäger zum Jäger machen. Aber dass es dem Menschen genau so ergeht, wie besagtem Hasen, das weiß ich aus vielfacher Erfahrung. Da nun der Schauplatz meiner Jungenstreiche das Südeichsfeld ist, so benutzte ich gern die Gelegenheit, die mich im Herbst nach Geismar führte.

Denn ich in früheren Jahren auf dem Hülfensberge stand und auf das kirchturmlose Dorf herabblickte so war die erste Frage, die ich mir stellte: Wohin gehen die Geismaraner ins Leseholz? Bei uns zu Hause gingen wir Jungen nämlich jeden Dienstag und Freitag in den Wald und lasen dort das dürre Holz auf, das der Wind von den Bäumen geworfen hatte. Manche gingen auch ins „Hekholz“. Man nahm einen an einer langen Stange befestigten Haken und holte sich damit die dürren Äste von den Buchen. Das „Heken“ war zwar verboten, wurde aber doch fleißig geübt. Man durfte sich nur nicht erwischen lassen, sonst wurde man wegen Forstfrevels bestraft. Jedoch hat man während meiner Knabenzeit keinen erwischt. Aus dem gesammelten Holze wurde eine Welle gemacht. Dann kamen zwei Stützen hinein und der Mann im Monde war fertig.

Dann zurück nach Geismar. Wohin sollten dir Geismaraner ins Leseholz gehen? Geismar hat nämlich keinen Wald, und infolgedessen wohnt auch kein Förster im Dorfe.

Geismar hatte auch keinen Kirchturm. Vor der Kirche stand ein offener Schuppen, in dem die Glocken hingen. Heute jedoch sind der neue Kirchturm und die schmucke Schule eine Zierde für das ganze Dorf. Geismar aber hatte damals in seinen Mauern einen Mann, der von uns Kindern sehr gefürchtet wurde, und vor dem wir fortliefen, wenn wir ihn von weitem erblickten. Es war der „Schandarm“.

Geismar hatte auch damals nach unseren Begriffen den größten Bahnhof der Welt. Aber etwas Poesie, etwas Anziehendes für uns Jungen hatte Geismar nicht. Und der Grund mag vor allem darin gelegen haben, dass der Wald fehlte. Die Höhen um Geismar herum zeigten kein erfrischendes Grün, sondern nur nacktes Felsgestein. Man erzählte uns, dass man in Zeiten der Geldknappheit die Berge abgeholzt habe, ohne dass man für Nachwuchs gesorgt. Eine ähnliche Gefahr hat dem Walde bei Martinfeld während des letzten Krieges gedroht, wo eine Kriegsgesellschaft etwas rücksichtslos abgeholzt hat.

Von Geismar aus führte mich bei lachendem Herbstwetter der Weg nach Lengenfeld. Kurz hinter Geismar liegt an einer Wegekreuzung die Lutterbrücke, genannt nach dem Flüsschen, das von Bartloff herkommt und bald darauf die Frieda verstärkt. Hier an dieser Brücke soll es nicht geheuer sein. Hier spukt es, wie an allen eichsfeldischen Brücken. Man hüte sich also, in der Geisterstunde über diese Brücke zu gehen. Zuerst wird man ein Stöhnen vernehmen und entfernt man sich nicht mit Sechzigkilometergeschwindigkeit, so kommt ein baumlanger Kerl unter der Brücke hervorgesprungen und hängt sich dem Wanderer auf den Rücken. Das soll ja für den Wanderer nicht gerade angenehm sein. Von dieser Brücke aus sieht man auf dem Wege nach Döringsdorf zu eine zweite Brücke. Hier ist der Schauplatz der Sage von „Donars Ziegenböcken“, die von zwei jungen Burschen geneckt worden.

Kurz vor dem stattlichen Dorfe Lengenfeld liegt hart am Wege die Hagemühle, im Volke als „Heumühle“ bezeichnet. Hier soll nach alter Sage das „Fräubchen von England“ seine letzte Ruhestätte gefunden haben. Der Grabstein soll eine Zeitlang als Trittstein gedient haben und ist jetzt in der Mauer der Kirchenumfriedigung angebracht. Hier, in der Nähe der Hagemühle und zu Füßen des Bischofsteins, lag wohl auch der alte Marktflecken Lengenfeld, der in einem Kriege zerstört wurde.

An jene ferne Zeiten erinnern nur noch die „Mühle im Hag“, das aus den Trümmern der alten Burg erbaute Schloss Bischofstein und die traurig wehmütige Linde, die den Wanderer schon von Weitem grüßt. Der Schlossberg, der viel Romantisches an sich hat, wurde regelmäßig, gutes Wetter vorausgesetzt, jeden Sonntag von der Heranwachsenden Jugend des Dorfes besucht. Es sitzt sich herrlich hier oben im Schatten der uralten zerfetzten Linde, dort wo die alte Burg steil ins Tal schaute. Überwältigend ist der Ausblick nicht, aber lieblich anheimelnd, beruhigend. Deutlich erkennt man noch das aus gelesenen Steinen und Schwerkalk hergestellte Mauerwerk, das nach tausend Jahren noch ebenso lest dastehen wird wie heute. Staunen muss man über die Alten. Sie kannten keinen Beton, aber ihre Burgmauern stehen ebenso fest wie dieser.

Vom Schlossberg schweift der Blick hinüber zur Erziehungsschule Bischofstein. Bischofstein war im vorigen Jahrhundert ein landwirtschaftliches Gut. Als es zum Verkauf kam, hätte Lengenfeld wohl gern die Ländereien genommen. Aber mit den großen geräumigen Gebäuden wusste man nichts anzufangen. Nach mehrmaligem Besitzwechsel wurde endlich die heutige Erziehungsschule geschaffen und man muss staunen, was Fleiß und Verständnis für Schönheit aus diesem früheren wüsten Fleck geschaffen hat. Das Dorf selbst aber hat durch die Schule mancherlei Nutzen. Man denke nur an die Handwerker Bäcker, Kaufleute und Gastwirte.

In den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts haben sich beim Eröffnen der Zigarrenfabriken zum ersten Male seit Begründung des Dorfes einige evangelische Familien in Lengenfeld sesshaft gemacht. Es sind biedere, rechtschaffene Leute, mit denen sich gut leben lässt. Die Zahl ihrer Glaubensgenossen stieg nach der Errichtung der Erziehungsschule Bischofstein. Gottesdienst wurde in gewissen Zeitabständen in einem gemieteten Zimmer vom Pfarrer in Großtöpfer abgebalten. Das Jahr 1926 brachte den Evangelischen am Fuße des Bischofsteines ein kleines, schmales Kirchlein, das eigenartig in das Landschaftsbild hingestellt ist.

Autor: unbekannt
(Quelle: „Eichsfelder Volksblatt“, Ausgabe vom 11. Oktober 1926)