Neujahrssingen (1993)

Gern erinnere ich mich gerade in diesen Tagen – zwischen Weihnachten und Neujahr – an das Neujahrssingen während unserer Kindheit, welches wir am Silvestertag in den Vormittagsstunden veranstalteten. Wir – das waren die Schulkinder – zogen am frühen Vormittag los, zu Verwandten, Bekannten, Geschäftsleuten, zum Lehrer, dem Pfarrer und unserer Meinung nach sonstwie Betuchten. Meine Brüder und ich bekamen von unserer Mutter jeder einen selbstgenähten weißen Leinenbeutel, und so zogen wir los.

Beim Lehrer, Pfarrer und bei unserer Meinung nach „besseren Leuten“ sangen wir hochdeutsch: „Das alte Jahr verflossen ist“ oder andere uns bekannte Kirchenlieder. Dann wünschten wir ein „gesundes neues Jahr.“

Bei den wie wir „platt“ sprechenden Verwandten und Bekannten sangen wir: „Gaabt uns daas nüwe Johr in Gottes Wuin.“ Daraufhin bekamen wir überall kleine Geschenke wie: Weihnachtsplätzchen, Pfefferkuchen und -nüsse, Süßigkeiten, Griffel aus Schiefer, Bleistifte, Äpfel, Nüsse und hin und wieder ein Geldstück. Über ein kupferrotes 2 Pfennigstück freuten wir uns riesig. Alles wanderte dann in den Leinenbeutel. Mittags um Punkt 12:00 Uhr war dann Schluss, und wir zogen nach Hause, um Bilanz zu machen.

Jeder schüttelte seinen Beutel aus, und wir begannen zu zählen, zu feilschen und zu tauschen. Jeder wollte natürlich das meiste gesammelt haben. Es gab kaum ein Haus, wo wir nicht eine Kleinigkeit bekamen. Die Spender waren zu damaliger Zeit auch nicht reich begütert. Viele hatten selbst eine stattliche Kinderschar.

Schon die Vorfreude auf dieses „Neujahrssingen“ war jedes Jahr aufs Neue riesengroß.

Freude hatten „Schenker“ und „Beschenkte“ bei diesem alten Brauch. Kinder unserer heutigen Generation würden große Augen machen, würden sie den für heutige Verhältnisse dürftigen Inhalt aus dem Beutel entleeren. Womit kann man Kindern überhaupt noch Freude machen?

Ja liebe Leser, so ändern sich die Zeiten! Vielleicht sollten wir auch daran mal denken, wenn wir allzu oft über die „schlechten“ Zeiten klagen.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein zufriedenes, friedvolles und gesundes „neues Jahr“.

Willi Tasch
(Quelle: „Obereichsfeld-Bote“, Heft 1+2/1993 vom 15.01.1993)