Mein erster Besuch bei Adam Richwien
Ein neues Licht war am heimatlichen Poetenhimmel erschienen; diesem nachzugehen, griff ich zum Wanderstab und lenkte meine Schritte nach Lengenfeld. Wider Erwarten bereitete es mir einige Mühe, Richwiens Wohnung zu finden. Ich stieg auf mehr denn zwanzig Betonstufen zu dem Dichterhäuschen empor und traf den Dichter in der Küche am Herde stehend und Kartoffeln in die Bratpfanne schneidend. Er war von schlanker Figur, das Gesicht bleich, schmal, ohne gerade hager zu sein; das dunkle, dichte, aufwärts strebende Haar beschattete eine hohe Stirn; die Augen erschienen mir trüb, nahmen jedoch, wenn er sprach, einen überaus lebhaften Ausdruck an.
Ich stellte mich vor. Richwien gab seiner aufrichtigen Freude Ausdruck, mich persönlich kennenzulernen, und lud mich zu einer Aussprache auf den Nachmittag ein, da er in Abwesenheit seiner Frau eben mit der Zubereitung des Mittagessens beschäftigt sei. Da klopfte es an der Tür und herein trat eine ältere Frau, augenscheinlich eine Armenhäuslerin, und ersuchte den Dichter, ihr einige mitgebrachte Eier zu kochen. Richwien bedauerte, augenblicklich nicht darauf eingerichtet zu sein; sie möge gegen drei Uhr wiederkommen. Die Kinder Richwiens erschienen, aus der Schule kommend, und ich empfahl mich bis zum Nachmittag.
Ich schlenderte den Hügel zum Bischofstein hinan, stand auf dem Rückweg auf dem Friedhof an den Gräbern meiner Schwiegereltern und dem Grabmal des Dechanten Spieß, welcher mir nicht unbekannt war, da derselbe bei unseren Schulprüfungen eine Respekt einflößende Persönlichkeit darstellte. Bei seinem Leichenbegängnis war ich mit noch einem Freunde gefolgt. Als wir damals von dem Friedhof kamen, empfanden wir das Bedürfnis, ein Glas Bier zu trinken, zu welchen uns einige Silbergroschen, die wir uns für Kegelaufsetzen verdienten, die Mittel an die Hand gaben. Wir wendeten uns dem Unterdorfe zu und kehrten in einem Hause, welches ein umfangreiches Schild zeigte, ein. Als wir in die Stube traten, waren wir befremdet, nur einen Tisch vorzufinden und ließen uns an demselben nieder. Ein kaum der Schule entwachsenes Mädchen trat ein und sah uns erstaunt und fragend an.
„Zwei Glas Bier wollen wir haben!“, rief ihr mein Freund in herrischem Tone zu. „Bier? Hier ist doch kein Wirtshaus“, gab das Mädchen ernst zurück. Wir sahen uns verdutzt an und schlichen betreten zur Tür hinaus. Draußen entzifferten wir die verwischte Firmeninschrift: „Peter Lorenz, Sattlermeister“. Als ich in späteren Jahren meine Braut besuchte, erwies sich das Schwiegerelternhaus als dasselbe, welches wir Knaben damals für ein Wirtshaus gehalten.
Diese Begebenheit erzählte ich Richwien, als wir beide am Nachmittag auf der Bank vor dem Dichterhäuschen saßen. Richwien war erstaunt und sagte: „Wenn der Sattlermeister Peter Lorenz ihr Schwiegervater war, dann find wir Verwandte, denn mein Großvater mütterlicherseits war dessen Bruder.“
Ich reichte, angenehm überrascht, dem Dichter die Hand und lud ihn ein, im nachbarlichen Bahnhofsrestaurant dieser Verwandtschaft die würdige Weihe zu geben. Richwien lehnte jedoch ab; dagegen setzte er eine gut gewählte Zigarre, die ich ihm mit den Worten anbot „dem Dichter das Beste“, sofort in Brand.
Bald war eine lebhafte Unterhaltung im Gange, die sich selbstverständlich auf dem Gebiete der Literatur und Poesie bewegte. Ich fand Richwien in den Klassikern weniger bewandert, als ich bei ihm vorausgesetzt und meine Frage, ob er viel gelesen, beantwortete er mit nein: „Zur Erwerbung besserer Klassiker fehlten mir die Mittel, und für handwerksmüßige Reimerei – Klang ohne Gedanken und wohlfeile Gedanken ohne Klang – bin ich nicht eingenommen.“
Bei Erwähnung meines Beitrags im Heimatboten 1926 „Stumme Dichter“ wollte er den Kreis jener Menschen, welche als poetisch anzusprechen wären, weiter gezogen haben. Poetisch seien alle Menschen, welche das Leben ideal auffassen und ihr Sein ideal gestalten, insbesondere aber diejenigen, welche für den Genuss der idealen Kunstwelt empfänglich sind, wenngleich sie selbst keine Gestaltungskraft in sich trügen. Dann fügte er belustigt hinzu, dass er im zweiten Teil des Beitrags den Eindruck gewonnen habe, als hätte ich über die stummen Dichter spotten wollen. Auch in andern meiner Beiträge sei der Hang zum Satirischen unverkennbar, doch sei dieses eine örtliche, erbliche Belastung, die ich tragen und die der Leser mit in den Kauf nehmen müsse. Wir lachten herzlich.
Leider gesellte sich ein älterer Mann zu uns und das Gespräch nahm eine andere Wendung, die mir jedoch auch Gelegenheit gab, den Humor, welchen sich der leidende Richwien bewahrt hatte, zu bewunden.
Beim Abschied nahm mir Richwien das Versprechen ab, ihn des Öfteren zu besuchen, was denn auch geschehen ist.
Nun ist der Heimatdichter heimgegangen, überraschend schnell ist es gekommen. Als ich die Todesnachricht und gleichzeitig den Schwanengesang gelesen, stand das Bild Richwiens vor mir. Ich sah ihn im Geiste auf der Bank vor feinem Häuschen sitzend, den Kopf in die Hand gelegt, die Augen geschlossen. Ein welker Blumenstrauß lag auf dem Tisch. Die seiner Hand entglittene Laute mit zersprungenen Saiten lag am Boden im Gras. Aus dem Hause drang ein unterdrücktes Frauenschluchzen an mein Ohr. In der Ferne, an der Wegkreuzung, erblickte ich im Geiste ein Grabmal, wovon die obere Hälfte aus dem Buschwerk hervorragte; hinter diesem türmten sich die Felsen des Faulunger Steins im Morgenrot.
Richwien war, wie Fuldner, lyrischer Dichter, jedoch nicht wie dieser Kunstpoet und Idealdichter, was wissenschaftliche Bildung (Sprachwissenschaft) voraussetzt. Richwien war der geborene Dichter und hat die Gefühlspoesie mit auf die Welt gebracht. Lange hat er diese in sich herumgetragen und als er sich in der bildenden Kunst versuchte, war er in der Wahl der Dichtungsart nicht glücklich. Sein ureigenes Gebiet war das lyrische. Dass er sich auf das epische (erzählende) und dramatische Handlungen darstellende Gebiet begab, wurde ihm zum Verhängnis. Das Manuskript wanderte, wie er in feiner Selbstbiographie sagt, in den Papierkorb und raubte ihm das Selbstvertrauen. Es ließ ihn an seiner Kunst, die er doch in sich trug, verzweifeln. Die Rückgabe des Manuskriptes mit einigen anerkennenden Worten, – und etwas Anerkennendes durfte es schon enthalten haben, hätte ihn unzweifelhaft ermutigt, seine schöpferische Tätigkeit fortzusetzen.
„Schuster, bleib’ bei deinem Leisten“, klagt der subjektive Dichter Richwien und bittet die Welt um Entschuldigung, dass er auch Dichter sein wollte. Er war in Wahrheit ein Dichter.
Das Leiden Richwiens hatte ihn zur Erwerbsuntätigkeit verurteilt und die unfreiwillige Muße führte ihn nach jahrelanger Unterbrechung in sein Reich zurück. Es gelang ihm, die Gesichte (Visionen), welche seine schöne Seele bewegten, der Mitwelt in poetischer Form mitzuteilen.
Wenn man nun die Darstellungskunst Richwiens von „Der vergrabene Klosterschatz“ an verfolgt, wird man beobachten, wie seine auf metrischer Grundlage aufgebauten Verse an Schwung und Rhythmus fortschreiten und in seinem „Schwanensang“, wo er zur Elegie neigt und unter Tränen noch ein Lächeln zeigt, an Tiefe und Erhabenheit vollendet erscheinen.
„Immer wieder im Erinnern,
Lag ihm schöner Jugend Zeit;
Und was Form gewann im Innern,
Hat er, Heimat, dir geweiht.
Reicht dem Sänger her die Laute,
Lauscht des letzten Sanges Klang“ usw.
Das ist Wohlklang, welcher den noch in innigster Verbindung mit Natur und Heimat stehenden Menschen bewegt.
Wenn man nun in Erwägung zieht, in welch kurzer Zeit Richwien seine poetische Mitteilungskraft gebildet, drängt sich uns unwillkürlich die Frage auf, was hätte er noch geschaffen, wenn der Tod ihm die Feder nicht so früh aus der Hand genommen?
Ruhe sanft, Adam Richwien: „Dein Reich war der Gedanke; dein geflügelt Werkzeug war das Wort.“
Albert Fritsch (Diedorf)
(Quelle: Eichsfelder Heimatbote, September 1928)