Mein Weg nach Bischofstein (1924 – 1929) – Ein ehemaliger Schüler erinnert sich …

Meine Eltern waren meinen Minderwertigkeiten nicht mehr gewachsen, die damals üblichen, häuslichen Erziehungsmethoden reichten weder hin noch her, um einen Sohn „aus gutem Hause“ fürs Leben vorzubereiten. Damals war ich 14 Jahre alt und „man sah sich um, wohin man den Jungen verbringen konnte“, man wollte mich eben „aus dem Haus“ geben. Mein Vater beauftragte daher den in HH (Handestadt Hamburg) bekannten Gustav Bertram, Leiter jener Vorschule, in der ich nicht sitzen geblieben bin, sich einmal diese „Erziehungsschule Schloss Bischofstein“ irgendwo im Eichsfeld anzusehen. Von dieser Expedition erfuhr ich 40 Jahre später durch Ripke, mit vorgehaltener Hand, denn so etwas habe er noch nie erlebt. Gustav Bertram kam mit dem Bescheid zurück „dahin könne man den faulen Jungen schon geben“. Weihnachten 1923 kam wieder mal der blaue Brief, Signal, sofort zu beschließen: ab nach Bischofstein!

Der größte und schwerste Mädler-Überseekoffer wurde mit einer Internatsausrüstung bepackt, ein Rollwagen mit 1 PS brachte ihn zum Dammtor-Bahnhof, mit meinem Vater ging die Reise los: 365 km – eine Tagestour! Mir war alles egal, schlimmer wie bisher konnte es auf einer neuen Schule nicht mehr kommen. Die spätere Bilanz: 4 Mal die Quarta zu erleben, war keine Aktiv-Leistung.

Abends um ¾ 9 Uhr Ankunft in Lengenfeld, die Suche meines Vaters nach einer Droschke misslang. Ohne Seil setzten wir den Mädler auf den kleinen Davosschlitten und bergab ging‘s, unterbrochen von unzählbaren Stürzen, entweder lag der Koffer oder mein Vater oder ich oder alle 3 im Schnee, während der Schlitten dem Dorf zustrebte. Auf so etwas war ein Hamburger Bankier im Gehpelz nicht eingerichtet. Keiner half uns, der Trupp der Schüler war lange an uns vorbeigezogen, den NEUEN kannte man nicht. Unsere Hilflosigkeit beeindruckte meinen Vater still. Dann ging‘s wieder bergauf, einer zog, der andere drückte, schließlich kam Riese – damals noch jung, und er half und wurde nobel entlohnt.

Im Schloss suchte mein Vater vergeblich den LEITER, es ging schon auf 10 Uhr, Bettruhe. Schließlich tauchte die DÜNNE (wer mag ihr je diesen Namen gegeben haben?) auf uns zu mit den Worten: „Mensch, da bist Du ja endlich, Du kommst auf Schlafsaal 3, da sind noch mehr NEUE“. Beim Anblick der Metallbecken, der Hocker, der Waschkummen und der Nachttöpfe wurde mir ganz übel und ich sagte meinem Vater: „Hier bleibe ich nicht, das ist nichts für mich!“ ER: „Nun gut, überleg es Dir, ich komme morgen früh noch mal her.“ Er kam nicht und ich blieb 5 Jahre.

Untergebracht wurde ich auf einer jener Großbuden. Jene vom Uradel schauten mich misstrauisch an, denn meine Familie stände nicht im Gotha, auch nicht im Semi-Gotha. Wehmütig dachte ich an HH (Hansestadt Hamburg) zurück, an mein schönes Zimmer mit Bedienung, hatte ich doch nie mein Bett gemacht, nie den Kakao aus Blechbechern getrunken, um die wir damals unsere Taschentücher schlingen mussten. Ich kam zum Tisch Natorp. Frau Natorp ging ungeheuer strenge mit mir um, ging mir doch der Ruf voraus, dass ich ein verwöhntes faules Subjekt sei, dazu noch aus reichem Hause und natürlich ... aus Hamburg. Als ich nach Bischofstein kam, wog ich 100 Pfund, fünf Jahre später 168 Pfund, der Brustumfang erweiterte sich von 80 auf 98 cm, die Körpergröße von 150 auf 175 cm. An Zeugnisbemerkungen fehlte es nie: 4 Mal versetzt, 2 Mal „nicht versetzt“, auch „Eberhard gibt sich keine Mühe“, „Eberhard hat wieder in seinem Fleiß nachgelassen, wenn er sich nicht zusammenrafft, wird er das Klassenziel nicht erreichen!“

Schließlich erreichte ich das Klassenziel 1929 – das Abitur des kleinen Mannes, das Einjährige und das auch nur, weil ich 19 Jahre alt sei. Oberschulrat Vogel verabschiedete mich mit der Erklärung, er habe Mitleid mit meinem Vater.

Er entließ mich mit den Worten: „Vielleicht wird im Leben mehr aus Ihnen“. Er habe in Bischofstein noch nie einen so faulen und ungebildeten Schüler erlebt.

Wenn ich heute, nach 50 Jahren, Bilanz ziehe, so sage ich: Welch‘ Glück, dass ich nach Bischofstein kam! Bischofstein hat sich um mich verdient gemacht! Und heute denke ich noch lebhaft an die schönsten und ärgerlichsten Erlebnisse.

Eine lange Zeit musste ich viermal in der Woche mit der Dünnen nach dem Essen übers Kuhpalais bis zur Linde am Stein marschieren, dann ging‘s im Laufschritt bergab, am Schwimmteich vorbei zum Schloss zurück. Frau Doktor war der Meinung: „Mensch, Du wirst ja immer dicker. Das ewige Radfahren ist doch keine Bewegung, Du musst laufen und immer wieder laufen!“

Bewegung gab es eigentlich genug. Ich denke an diese entsetzlichen frühmorgendlichen Dauerläufe, gerade aus dem warmen Bett kommend. Wenn ich dann irgend konnte, verschwand ich oben auf dem Kofferboden und wartete dort die unbequeme Sache ab. Nur bei ganz schlechtem Wetter ertönte es: „Morgen! Aufstehen! Dauerlauf fällt aus“.

Wenig sagte mir auch die Außenarbeit zu: das Steinesammeln, Wolfsmilchzupfen, Rübenverziehen, die Heuernte, die fast immer auf den letzten Tag vor den Ferien fiel (den Faulen wurde angedroht, dass sie noch länger bleiben müssten), die Rübenernte (Ripke: „Los, los, braune Haufen, grüne Haufen“) oder das Dreschen. Was waren wir froh, wenn die Maschine wieder einmal verstopft mit tiefem Grunzen stehenblieb und der Riemen durch die Gegend flog. Ripke, angetan mit Windjacke und geknotetem Taschentuch, suchte fluchend nach der Ursache. Um die Arbeitsstunde zu umgehen, ließ ich mich zum Eselskutscher ernennen. Anstelle der längst im Pferdehimmel befindlichen Eselin Lotte lenkte ich einen mageren Ochsen mit „Hüh Hott“ (= links) und „Hotte Wett“ (=rechts) zum Bahnhof, zur Post oder zum Bäcker Rummel. Im Dorf hatte ich manche Quellen erlesener Genüsse entdeckt. Nur fehlte immer das Taschengeld und da kannten die Leiter der Kanzlei keine Gnade, ob es Herr Löwe, Herr Richter oder Fräulein von Dehn waren. Kredit gab aber nur Rummel (1 Torte = 6 Reichsmark), während der Krämer Montag an der Ecke ein Schild angebracht hatte: „Willste pumpen, komme morgen, ich muss mir erst ‘ne Pumpe borgen.“

Unvergessen die Spannung auf die neue Budenordnung nach den Ferien. Die hinteren Buden wurden erst später warm. Wir gossen dann einfach Spiritus auf den Boden und zündeten ihn an. Ungebetene Besucher konnte man mit dem großen Wort: „Stubenrecht raus!“ zum schnellen Verlassen veranlassen. Nur Steinhauer schlug mich vor Bude 24 echt k.o., sodass ich bewusstlos ins Krankenzimmer getragen werden musste.

Eines mittags 1926 verkündete Ripke beim Appell, in Bischofstein gäbe es nun keine Strafen mehr wie Strafkolonne und Sonntagsarrest, auch habe Bollmann das Strafbuch, das im Amtszimmer auslag und in dem jeder Lehrer „Strafen eintragen“ konnte, verbrannt. Wir waren sehr enttäuscht, machte es doch eher Spaß, Verbotenes zu tun. Man zog uns nun zur Erstattung materieller Schäden heran. So musste mein Vater die große Scheibe zum Baderaum ersetzen, die ich in der Pause eingeschlagen hatte, als die Bischofsteiner Feen gerade duschten und kreischend im Dampf verschwanden.

Als ich einmal – wirklich aus Versehen – im Vorbeiradeln hinten an der Küche mich eines Kaugummis entledigte und dieser in einen riesigen Kübel mit Karamelpudding fiel, kam sofort Frau Kaufhold herausgestürzt und schrie: „Der Esterreich hat in den Pudding gespuckt!“ Die Ra-Ra musste den schönen Pudding in den Schweinetrog schütten und mein Vater erhielt eine Sonderrechnung über 80 RM (Reichsmark). Man traute mir ohnehin viel Böses zu. Ähnlich wie Schelm Hacke hatte ich mir aus Hamburg Zwerghühner mitgebracht. Sie krochen aber immer wieder zu den Hühnern der Schule. Als ich sie durch das Hühnerloch kriechend wieder herausholen wollte, wurde ich von Frau Bollmann als Eierdieb angeprangert. Unvergessen sind auch die regelmäßigen Filmvorführungen im umgeräumten Speisesaal, das große Gartenfest, bei dem uns Beate Bonus, romantisch italienisch verkleidet, auf einem Uralt-Grill Fleischstückchen briet, die Rad-Gymkanas im Hof, den Besuch der Göttinger Mädchen unter dem Schutz von Frau Krasselt, die Faschingsfeste, bei denen sich viele mit Hingabe als Mädchen verkleideten und die Nikolaus-Feste, zu denen wir Unmengen von Fresspaketen erhielten.

Der Höhepunkt aber war der 20. August, wenn die alten Schüler mit ihren Autos anreisten – u. a. Werner Krolzig, damals schon ein eleganter Herr vom Scheitel bis zur Sohle mit seinem Mercedes. Karlgeorg von Kleist, der mit Bärbel Hacke in seinem Dixie­BMW aus Berlin anreiste, fand seinen Wagen im Oberstock des alten Schlosses wieder, von wo er ihn Stufe für Stufe wieder herunterfuhr.

Wir erlebten die ersten Radios. Ernst Heinkel, der kurz vorher als nächtlicher Dachfirstwanderer mit umgehängtem Betttuch für Furore gesorgt hatte, schloss seinen Detektor-Apparat an das Gitter des alten Friedhofs an, doch war vom Lindbergh-Flug nichts zu hören. Später genossen wir die nächtlichen Radiosendungen aus dem Savoy-Hotel London, natürlich heimlich.

1946 besuchte ich erstmals wieder Bischofstein. Frau Doktor holte mich vom Kalkhof ab. Oberhalb Hildebrandshausen kam uns ein Uniformierter – wie sich später herausstellte, ein Bediensteter der Bahn – entgegen. Frau Ripke rief ihm zu: „Es ist nichts. Ein alter Schüler möchte seinen alten Lehrer besuchen.“ Der Mann hatte aber ebenso viel Angst vor uns als wir vor ihm.


Eberhard von Oesterreich (Schüler der Internatsschule Schloss Bischofstein von 1924 – 1929) 
(Quelle: „Bischofsteiner Rundschreiben“, Weihnachten 1981, S. 13 – 14)