Mein Leben am Entenbergtunnel

Wann genau das Haus vor dem Entenbergtunnel im Bilstal gebaut wurde ist mir nicht bekannt. Es wird jedoch nicht vor Fertigstellung des Tunnels und der gesamten Eisenbahnstrecke Leinefelde – Treysa gewesen sein, denn- erst ab Nutzung der Strecke musste sie ständig kontrolliert werden.

Der erste Bewohner des Hauses war meines Wissens Herr Schneider mit Familie, irgendwie verwandt mit Fam. Hardegen im Unterland (Lengenfeld). Diese Familie hat das Haus bewohnt bis Ende 1919.

Mein Vater wurde aufgrund einer Kriegsverletzung zum Streckenläufer ausgebildet und bekam ab 1.1.1920 dieses Haus als Dienstwohnung zugewiesen. Er wohnte aber schon vorher in Lengenfeld im Unterland möbliert (bei einer Familie Schneider unterhalb von Morgenthal. In Erinnerung ist mir noch die Erzählung meines Vaters, wonach die Hausfrau mehrfach versuchte, ihn mit ihrer Tochter "Meine Praxika" zu verkuppeln).

Meine Eltern –

Andreas Koch *1891
Helene Koch * Hartung * 1889 Ebertshausen

haben 1919 geheiratet und das Haus im Bilstal im Januar 1920 bezogen. Zum Haus gehörte separat gebaut eine Waschküche mit angebautem großem Backofen sowie ein Stall für Ziegen, ein kleinerer abgeteilt für Schwein und das Plumpsklo (in die Jauchengrube des Stalles mündend) Am Stall angelehnt befand sich der selbstgebaute Holzschuppen. Die zur Viehhaltung benötigten Felder lagen beidseits der Bahnlinie vor und hinter- der Unterführung des Bahndamms sowie beim Haus. Mein Vater hatte außerdem ein Blockhaus auf der gegenüberliegenden Seite der Bahn mit 13 Bienenkästen. Auf dieser Seite stand auch noch ein Häuschen mit Unterkunftsraum für Streckenarbeiter sowie Telefon zum Bahnhof. Einen ordentlichen Zufahrtsweg zum Haus gab es nicht, da war nur im Tal hinunter der Feld- und Holzabfuhrweg. Wir sind grundsätzlich neben den Schienen Richtung Bischofstein gelaufen. Wegen der Verlegung der Gleise an der Abrutschstelle auf dem Damm nahe bei unserem Haus war dieser Weg nicht als Fahrweg nutzbar.

Die von meinem Vater zu kontrollierende Bahnstrecke ging von Küllstedt bis Schwebda. Er hatte täglich 17 km zu laufen, abwechselnd vom Haus aus bis Schwebda, den anderen Tag bis Küllstedt. Zu seiner Ausrüstung gehörte ein schwerer großer Schraubenschlüssel, eine Pechfackel, eine rote Fahne, eine Karbidlampe. Außerdem hatte er dafür zu sorgen, dass die Büsche vom Bahndamm nicht in die Fahrbahn des Zuges wuchsen (also zeitweise auch noch Axt und Säge mitzunehmen) Die tägliche Arbeitszeit war durch die Züge (mit denen er jeweils seine Strecke zurückfahren musste) geregelt. Ein Tag pro Woche war frei.

Die 17 km waren immer mitten zwischen den Gleisen auf den Schwellen zu laufen, denn er musste ja kontrollieren, dass die Befestigungsschrauben ordentlich angezogen waren. Hatten sich Hohlräume unter den Schwellen gebildet musste er das melden, dann kamen die Gleisarbeiter und stopften den Unterbau wieder. Probleme waren die vielen Tunnel, denn da war der Tunnel bei Schwebda, der durch Treibsand gebaut war und regelmäßig alle paar Jahre über dem Gewölbe Hohlräume aufwies. Mein Vater hörte den Berg arbeiten, wenn es mal wieder soweit war. Der andere Problemfall war der Tunnel zwischen Effelder und Großbartloff. Auch da gab es Hohlräume über dem Gewölbe. Da schlug dann schon mal ein Felsbrocken durch das Gewölbe. Ich erinnere mich daran, dass mein Vater einmal mit meinem Bruder zur dortigen Baustelle gegangen ist und mit ihm über das Gewölbe geklettert ist, weil sich dort eine wunderbare Tropfsteinhöhle gebildet hatte. Mein Bruder war hell begeistert. Natürlich musste das zerstört und ausgefüllt werden.

Ein paar Schienenbrüche fand mein Vater auch und musste jeweils die Strecke sperren lassen, bis die Schiene ausgewechselt war. -Beide Zugunglücke - bei Großbartloff und bei Lengenfeld - hat mein Vater hautnah miterlebt, er war jeweils auf der Heimfahrt im Zug.

Und dann der Krieg - Wegen der vielen Tunnel bekam mein Vater sofort 1939 einen ausgebildeten Polizei-Suchhund, den er täglich mit auf Strecke nehmen musste. Es hätte sich ja ein Bombenleger im Tunnel verstecken können! Später bekamen wir dann Gesellschaft: Tunnelwache. Vier ältere Soldaten, die abwechselnd Tag und Nacht durch den Tunnel wanderten und in dem Häuschen mit Telefon 2-stöckige Betten und einen kleinen Herd zur Selbstversorgung hatten. Die Männer waren alle in der Nähe zu Hause, konnten also abwechselnd zu ihren Familien fahren. Welch ein Irrsinn, die anderen Tunnel sind teilweise viel länger, ausgerechnet unser Tunnel musste bewacht werden!

Ach ja, einmal fand mein Vater auch einen Großbartloffer , der sich ausgerechnet unseren Tunnel ausgesucht hatte, um sich vor den Zug zu legen (am 29.09.1933, Adolf Bischof, gebürtig aus Heuthen, damals 69 Jahre alt).

In den 50er Jahren wurde mein Vater dann von einem Herrn Habicht aus Lengenfeld abgelöst und tat dann in Lengenfeld Dienst als Brückenwache. Es reichte ja auch, in seinem Leben fast 3 Mal um die Erde gewandert zu sein!

Soweit der Dienst. Und nun unser Leben im Bilstal. –

Mein Bruder Fritz wurde im November 1920 geboren. Es gab da am tiefsten Punkt hinter dem Bahndamm eine Pumpe, die uns mit Wasser versorgen musste. Das sind ca. 300 m bergauf, die mein Vater in einer Butte mit 4 Eimern Wasser Inhalt den Berg rauftragen musste. Unter jeder Dachrinne stand ein großes Gefäß für Regenwasser, Brauchwasser und für die Tiere und für Wäsche etc. Uns war strikt verboten, Wasser zu trinken, denn alle paar Jahre wurde das Wasser untersucht mit immer dem gleichen Ergebnis: tierische Bestandteile im Wasser. Klar, es war ja keine Quelle sondern nur Sickerwasser vom Berg runter und durch die Kuhweide von Hardegens, in denen Kühe weideten und der Zaun war nur ein paar Meter vom Brunnen entfernt.

Nach 1945 wurden die Jungtiere der LPG aus Lengenfeld in diese Weide gesperrt, viel zu viele für die kleine Weide und der Drahtzaun war rostig und löchrig. Sie haben uns buchstäblich in den Brunnen gepinkelt. Das konnte so nicht weitergehen, also haben wir Krach geschlagen und bekamen demzufolge alle 2 Tage vom Güterzug im Tausch gegen die leeren Kannen 2 volle mit Leitungswasser aus Leinefelde vor die Haustür gebracht. Natürlich hat das Zugpersonal Fragen gestellt – wir haben so manchen Spaß gehabt, auch dass ich dann auf die Lok geklettert bin und per „Straßenbahn" nach Lengenfeld zum Einkaufen fahren durfte. Für die Bahn war das ein teurer Spaß, jedes Anfahren der Lok kostete 2 Zentner Kohle, aber eine andere Lösung gab es nicht (es sei denn, meine Eltern hätten die Genehmigung zur Ausreise nach Westdeutschland bekommen).

Ein anderes Problem war unsere Beleuchtung. Wir hatten ja keinen Stromanschluss, also Petroleumlampen. Das kann zwar ganz gemütlich sein, aber es ist halt eine Funzel und geht ganz schön auf die Augen. Nur solange es Petroleum gab, denn im Krieg war es auch damit vorbei. So musste die Bahn wieder für eine Lösung sorgen, und die hieß Propangas. Vor dem Küchenfenster wurde ein kleines abschließbares Häuschen für die große Gasflasche gebaut und eine Leitung gelegt in die Küche und ins Wohnzimmer. Ja, und mit Schlauchanschluss bekamen wir einen 2-Flammen-Gasherd. Ein Glück, dass wir so vorsichtig waren, jeden Abend die Gasflasche abzudrehen, denn der Gummischlauch war ungeeignet für Gas und irgendwann wären wir wohl in die Luft geflogen. Die schwere Gasflasche wurde auch von Leinefelde aus per Güterzug angeliefert und jeweils umgetauscht, wenn sie leer war. Es gab also im ganzen Haus nur zwei beleuchtete Zimmer – wozu braucht man auch beim schlafen Licht? Es war also wirklich nicht ganz einfach. Trotzdem, es war unsere schönste Zeit.

Ich wurde 1924 geboren, musste immer allein spielen und war regelrecht menschenscheu.
Deshalb musste ich auch vor der Einschulung erst 1/2 Jahr in den Kindergarten nach Lengenfeld, damit ich mich an andere Kinder gewöhnte. Nicht ganz einfach bei einem Fußweg von 3 km morgens und abends wieder. Die Schule war da schon ein größeres Problem. Ich wollte nämlich nicht mehr hingehen, weil ich von anderen Kindern beschimpft und angespuckt wurde, ich war ja evangelisch, also anders (wenn auch niemand wusste wieso).

Mein Bruder wurde mit Steinen beworfen und am Auge getroffen, so dass er genäht werden musste. Das reichte. Mutter ist zum Schulleiter Herrn Maßberg gegangen, das hatte eine ordentliche Standpauke zur Folge und von da ab hatten wir Ruhe. Gott sei Dank sind die Menschen heute nicht mehr so borniert, such im Eichsfeld nicht mehr!

Meine Eltern waren wohl beide mit grünem Daumen begabt. Jedenfalls hatten wir in unserem geschützten Eckchen ein Blumenmeer, so dass die Züge langsam fuhren und die Fahrgäste sich an der Blumenpracht freuen konnten. Notfalls kam sogar der Gärtner, um sich Blumen für Kränze zu erbitten, wenn sein Vorrat zu Ende gegangen war. Natürlich hatten wir alles Gemüse selbst im Garten, und an Obst hat es auch nie gefehlt. Vater zog sich aus Wildlingen durch Veredeln die Obstbäume selbst, die ganze Wiese hat er damit bepflanzt, alle möglichen Sorten.

Und die Bienen hatten viel zu tun, damit die Ernte immer gut ausfiel. Natürlich hat alles viel Arbeit gemacht, Handarbeit, denn Maschinen waren bei uns nicht einzusetzen. Da wurde mit Sense gemäht und das Heu per Schubkarre heimgefahren und auf dem Rücken auf den Heuboden geschleppt. Mutter stand tagelang auf dem Acker Kartoffeln hacken und häufeln, alles per Hand. Und dazu die Wege ins Dorf zum einkaufen, natürlich alles nach Hause tragen - bis ich nach 1945 wieder zu Hause war und mit dem Fahrrad als Packesel die Wege erledigen konnte. - Trotzdem, ich habe an meine Heimat nur die besten Erinnerungen, es war die schönste Zeit meines Lebens! Unser kleines Paradies werde ich nie vergessen.

Ach ja, da ist noch was mit den Rindern der LPG. Der Zaun war morsch und kaum noch vorhanden, die Tiere hatten in der Weide nichts mehr zu fressen, also gingen sie auf Suche den Bahndamm rauf und standen regelmäßig immer wieder mitten auf den Gleisen. Natürlich meist, wenn ein Zug kommen musste. Also stand ich im Hof und gab dem Lokführer Zeichen: „Bremsen!“, und zeigte nach vorn. Es ist nie ein Tier überfahren worden, und natürlich hab ich bei der LPG Alarm geschlagen - es hat nur nichts genutzt, es gab ja keinen Stacheldraht. Aber vergessen hat man uns das nicht. Nach dem Mauerfall wurde ich in Lengenfeld von einer jungen Frau angesprochen, der Tochter des LPG-Leiters, die sich an Besuche mit ihrem Vater in unserem Paradies erinnerte.

Da hat mir auch mal der Lokführer einen Zettel zugeworfen, auf dem stand "Schloss Kuh Zaun" – ich bin sofort per Rad losgefahren, da hatte sich die beste Milchkuh vom Schloss Bischofstein im maroden Drahtzaun stranguliert. –

Die Pferde vom Entenmüller, der unseren Acker immer gepflügt hat, kamen auch mal herrenlos durch den Tunnel getrabt und der Zug kam kurz hinter ihnen, den hab ich auch gebremst. Er fuhr langsam hinter den Pferden her bis zum Bischofstein, da sind sie dann abgebogen. Und der Entenmüller stand haareraufend vor dem Tunnel und hat schon das Schlimmste befürchtet. Nachbarschaft muss doch zusammenhalten!

Noch etwas zu mir persönlich. Ich habe eben, weil ich immer allein war, schon als Kind viel gelesen. Bei uns wurde auch nur hochdeutsch gesprochen, da Vater Hesse war und Mutter aus dem Thüringer Wald stammte. In der Schule war das für mich von großem Vorteil, ich sprach und schrieb gutes Deutsch. Die guten Noten dafür wurden nicht von allen gern gesehen, mir wurde dann neidisch erklärt „Du bist ja auch ihr Liebling" (wir hatten eine Lehrerin), was natürlich Unsinn war.

Ich bin auch in der Natur aufgewachsen und schrieb gute Aufsätze. Ich habe dann die Handelsschule in Eschwege besucht und ab 1939 in Nordhausen in einer Baumschule im Büro gearbeitet, bis diese 1945 ausgebombt wurde. Da war ich zum Glück gerade zu Ostern zu Hause. 1947/48 habe ich als Katechetin in Lengenfeld, Großbartloff und Hildebrandshausen Religionsunterricht gegeben, bis meine Gesundheit streikte und ich zusammenklappte. Meine Eltern konnten meine Hilfe selbst gut brauchen, Arbeit gab es ja dort ohnehin nicht.

Ohne mich hätten sie nie geschafft, in den Westen, wo mein Bruder mit Familie lebte, gehen zu dürfen. Ich bin über 2 Jahre von Behörde zu Behörde gefahren, ohne Ergebnis. „An uns liegt es nicht" – bis unser Bürgermeister mal zur Schulung musste und sein Stellvertreter (der Leiter der LPG) die Genehmigung unterschrieben hat. 1959 sind meine Eltern nach Spangenberg übergesiedelt - ich bin über Berlin abgehauen.

Marianne Wredenhagen, geb. Koch