Lenzende Dorfheimat
Wie ich heute Morgen auf bin, sehe ich auf dem Kalenderlein nach, wie weit denn ins Jahr. Da steht dahingedruckt: Petri Stuhlfeier. Da kenn ich mich aus. Das ist der richtige Peterstag, wo der Schnee, sofern grad welcher wirbelt, auf den heißen Stein fällt.
Nun mir passt das gerade so. Da will ich, gleich dem Bernhofer Peter, der dazumalen so ein Langes und Breites von der Großstadt erzählt hat, und mich nachher auch noch ausgelacht, dass ich mir selbiges Langes und Breites noch nit mal selbsten angesehen hätte, eine Namenstagsangebinderede halten. Ich will ihm nun als Gegenleistung etwas erzählen von der Dorfheimat, wie sie dasteht, wenn's Frühjahr, und nachher bald gar Mai wird. Denn man weiß nit, ob sich der Peter die Heimat grad so besehen hat an allen Ecken und Enden, wie die Großstadt. - Zum anderen weiß man nit, wie viele Bernhofer Peter es noch gibt.
Zu Peterstag bestand früher eine spaßige Volkssitte. Es war das "Nisteln". Nachbarn und gute Freund - und Verwandschaften neckten sich gern gegenseitig damit. Unter irgendeinem harmlosen Vorwande, wie: "Ich wall ühren Sührtäig mol borge", mol spälle - storge - stricke kumme, und anderem, verschafften sich die Hinterlistigen Eintritt ins Haus. Plötzlich aber ließen sie aus einem bisher versteckt gehaltenen Tuche allerlei Unrat, wie Laub, Spreu und Ziegenmist in die Stube wirbeln und rasseln. Nun hieß es allerdings sich schnell aus dem Staube machen, sonst setzte es etwas ab. Das war das "Nisteln".
Zu "fetten Donnerstag" bestand eine ähnliche Sitte. Statt des Nistelns wurde da "getöppert".Man schlich sich unbemerkt ins Haus und warf abständige Tongefäße mit solcher Wucht auf den Hausflur, dass sie in unzählige Scherben zersprangen. Wehe aber, wenn man erwischt wurde. Es wurde den Tag besonders gut aufgepasst und auch allerlei Vorkehrungen getroffen. Es konnte dann wohl vorkommen, dass beim Rückzuge die Tür verrammelt war. Der Besenstiel war dann aber sicher auch zur Ahndung der Tat in Bereitschaft. Auch geschah es wohl, dass aus der Bodenluke ein Topf kalten Wassers sich auf das Haupt des Übeltäters ergoss, wenn nicht noch "Ärgeres". Dann war allerdings der Scherbenbringer der Geblaumeierte und wurde tüchtig verspottet. Übel wurde aber, wie die Sache auch ausging, nichts genommen.
Jetzt sind uns allerdings solche Sitten mehr oder weniger verständnislos geworden. Aber Spaß hat’s mir selbst immer gemacht, bis auf ein einziges Mal. Da hatte ich einmal bei Nachbars Wase Therese "getöppert". Dazu erachtete ich einen großen Leinefelder Steingutsenftopf gerade gut genug. Aber das Biest hatte einen harten Schädel. Mit aller Wucht flog es an den auf der Eimerbank am Hausflur stehenden, schönen, blau maillierten Borneimer und blessierte ihn recht anständig, so dass viele schöne, blaue Emaille abging, ohne dass es ihm selbsten, dem Senftopf, geschadet hätte.
Den Tag hat auch mein rückwärtiger, von Natur eigens für solche Angelegenheiten bestimmter Körperteil eine Blessur erhalten. Emaille ist aber daselbsten nicht abgegangen. Mehr verrate ich nicht über die hinterhältige Sache. Später sah ich dann den blau maillierten Borneimer im "alten Graben", wo ich mir "Wienzekatzen" für die bevorstehende Palmenweihe schnitt, zwischen anderen abgetanen Küchengerätschaftlichkeiten ein beschauliches Dasein fristen. Sollte er jemals als Wirbeltrommel oder ähnliches wieder zu Ehren gekommen sein, so verdankt er es sicherlich mir.
Um die Zeit denn auch, wo die Schneeschmelze vorbei war, begann für uns Dorfjungen das so beliebte "Schoßspiel". Die Spielsaison dauerte bis etwas nach Ostern. Dann war es vorbei und anderes kam an die Reihe. War um die Zeit kein Dorfjunge, der etwas auf seine Standesehre hielt, der nicht einen gehörig gefüllten, rasselnden Schoßbeutel in der weit abstehenden Hosentasche ständig mit sich herumtrug. Wer um die Zeit aufs Dorf kommt, sieht an allen halbwegs geeigneten Plätzen die Jungen das "Schießen" betreiben. Manchmal setzt es dabei auch Raufereien und Händel ab. Ist auch schon vorgekommen, dass in der Sonntagskirchen so ein Schoßkügel einem aus der spielenden Hand sprang, grad als es zum Stillgebet so mäuschenstill war in der Kirchen, und klipp-berwik bick bick durch den breiten Mittelgang hopste. Wer da von den Jungen da vorn den roten Kopf kriegt, der ist's gewesen. Ja, die Dinger sind glittig und rund. Mir ist das keinmal passiert, das mögt ihr glauben oder es bleiben lassen.
Nur eine kleine Unannehmlichkeit ist mir mal geschehen. Ich hatte, um meinen Schoßreichtum zu vermehren, mal mit Mreliesens klein Fränzchen "ums Gewinnst" geschossen und ihn "flügge", das heißt total bankrott gemacht. Halbheit ist mir zuwider. Wie ich nun so am Tisch bei uns sitze und den Gewinn überzähle, klopft es an und Mreliese stiebt herein, das flügge Fränzchen hinter sich her zerrend. "Do muss ich abber daach mol kumme! Galt, dü hest mät unse Franz geschossen, dü Jeckchen?" Ein Unheil ahnend, gab ich weinerlich zu: "Jo." - "Do gib mol alsbal de Schösse wedder har." Sprachs und verschwand, meinen ganzen Besitz in der Beiderwandschürze mit fortschleppend. Da kam mir das Sprichwort in den Sinn: "Unrecht Gut kommt nicht an den dritten Erben." Aber ich wendete es nicht auf mich, sondern auf Mreliesens Franz an.
Ich verwarnte die Dorfjungen alle, nicht mit Franz zu schießen ums Gewinnst, im Hinblick auf meine gemachten Erfahrungen. Auf den dritten Erben sind weder meine, noch Mreliesens Franzen Schoßkügelein gekommen. Nur ab und zu, wenn ich Frühjahrs den Garten umgrabe, finde ich noch so ein Kügelein. Dann freue ich mich, wie ein Dorfjunge, der einen Schoß gefunden hat - und erinnere mich an ehemals.
Wenn die Karwoche kam, mussten wir Dorfjungen mit unseren Holzklappern und Schnattern, oder auch Rasseln geheißen, die Leute zur Kirchenandacht laden. Mit diesen Mordsspektakelinstrumenten versehen, versammelten wir uns vor der Pfarrei. Mich verwundert's nur, dass der Pfarrherr dabei seine Osterpredigt hat studieren können. Wenn der Pfarrherr das Fenster öffnete und winkte, so trabten wir ab.
Dann ging's durch alle Straßen und Gassen. Die Leute wussten, was das zu bedeuten hatte. Die Frauen und Mädchen hingen den runden Mantel um. Die Männer und Burschen nahmen die Kappen vom Wandnagel, das Gesangbuch vom Brett und gingen zur Kirchen. Vor dem letzten Klappergange aber machte der Pfarrherr das Fenster auf und warf Ein- und Zweipfennigstücke zwischen uns Klapperjungen. Da gab's ein lustiges Raufen und Raffen um die Geldstücke. Wer nicht tüchtig raufen konnte, dem konnte es geschehen, dass er nicht um irdischen Mammon, sondern nur zu Gottes Ehr' geklappert hatte. Wer aber tüchtig raufte und raffte, der konnte leicht einen zerquetschten Finger haben zu Ostern, denn Dorfjungen haben derbe Nagelschuhe an. Dem Pfarrherrn machte das Geraufe sichtlichen Spaß und uns Dorfjungen noch mehr.
- Am zweiten Osterabend wurden allenthalben auf den heimatlichen Höhen die Osterfeuer abgebrannt. Uns Dorfjungen oblag es in der Fastenzeit, die ungeheuren Dornenstapel zusammenzurackern.
Die Kirchberger, das ist der Dorfteil um die Kirche herum, brannten ihr Feuer immer auf dem Küppchen ab. Die Keudelgässer Anwohner hatten ihr Feuer "am Hasenborn", von wo es auch weithin sichtbar war. Auch die Schafhöfer hatten ihr eigenes Feuer und auch die Oberländer. Somit brannte es dann an allen vier Enden, ohne dass die Feuerwehr in Tätigkeit zu treten brauchte. Die Schafhöfer sind der alten Sitte noch am längsten, ich glaube gar bis auf heutige Zeit, treu geblieben. Sachverständige Männer überwachten die lohenden Brände und schürten mit Dunggabeln die Glut.
Wir Dorfjungen liefen mit Harzfackeln im näheren und ferneren Bereich der Feuer über die Felder und vermehrten den Zauber des Abends mit unseren "Irrwischen." Zahlreich kamen die Dorfleute herbei. Man sang fromme Osterlieder oder auch: Großer Gott, wir loben dich... Burschen und Mädchen beschenkten sich dann beim Feuer auch gegenseitig mit bunten Ostereiern in Natura, Zucker und Marzipan.
Am dritten Osternachmittag ging's dann hinauf in den lenzenden Heimatwald. In der "Gänsetelle" vergnügten sich dann Burschen und Mädchen bei Harmonikaspiel und Tanz. Die "Gänsetelle" liegt einige hundert Meter östlich der kleinen Kuppe, mitten im Buchenwald. Woher der Name, vermag ich nicht anzugeben. Gänse habe ich lebtags da nicht angetroffen. Sie würden da wohl auch nicht lange sich des Lebens freuen, weil in den spaltigen Felsschroffen ringsumher wohl noch mancher Fuchs wohnt. Wie die Ahne wissen wollte, hat einstens da ein Meiler geraucht. Zum Beweise dafür zukrümelte sie die schöne kohlenschwarze Blumenerde, die es besser ringsherum nicht gibt. Nun, die Ahn' muss es ja wissen. -
Kommt dann aber die Walpurgisnacht, dann hissen die lustigen Dorfburschen auf der höchsten Föhre der Kuppe eine Flagge, die da künden soll: "Der Mai ist gekommen." Dann erschallen nun allabendlich Harmonika - und Singweisen, lustige Wander- und wehmütige Volkslieder herab ins dämmernde Tal. Mancher drunten lauscht und denkt der eigenen frohen Jugendzeit.
Drüben aber, nordwestwärts, reckt auf hoher Warte die uralte Schloßberglinde die Äste und sänne wohl auch, wenn ein Baum solches könnte, vergangener Zeit nach. Jeder vom Dorf ging wohl jedes Frühjahr auch da einmal hinauf, wo die Linde steht, zum Schlossberg. Der damalige Besitzer, der Schloss-Müller, der nun da oben auf dem Bergfriedhofe längstens schon seinen letzten Schlaf schläft, duldete es stillschweigend. Muss mich noch heute darüber verwundern, wo denn da oben all die Holderbüsche hergewachsen sind, die Zeit.
Jeder Dorfbursche, jeder Junge, schnitt sich da oben einen Holderwedel. Damit streichelte mancher, der es sich erlauben durfte, die roten Wangen der Mägdelein, so dass sie noch röter wurden. Und Lieder sangen sie, die Burschen und Mädchen, Lieder von Liebe, Luft und Leid, von Wanderburschen und Jägern, die jagen gingen im grünen Wald, von tapferen Rittern und frommen Nonnen, von fahrenden Spielleuten und lustigen Tirolern. Aus allen diesen Schlossbergliedern sprach die Seele, das Empfinden des Volkes. Mir ist, als müsst ich heute noch diesen Volksliedern lauschen. Ihre kunstlose Schlichtheit hat's mir angetan.
Waldeinwärts standen die Zeit im Unterholz zahllose Schneeglöckchen und läuteten den Frühling ein. Manches Sträußelein kam dann mit zu Tal. Manches Blumenkind, das oben in rauer Höhe geboren wurde, steht noch heute auf diesem und jenem Kindesgrabe des Heimatfriedhofes im Tal, sinnbildet in schneeweißer Blüte die ewig lenzende Kindesseele in der ewigen Heimat Gottes. Die Blumen, die da oben blühen, sie wähnen ihr Kindelein gestorben, von rauer Menschenhand zerdrückt, zertreten am Wege.
Aber sie irren, die Blumenmütter. Ihre Kindelein blühen, blühen in der lenzenden Talheimat, weißkelchig und duftig. So weine auch du nicht mehr, Mutter. Du irrst. Dein Kind ist dir nicht gestorben. Es lebt und blüht und jauchst in Gottes ewiger lenzender Heimat. Das Blümelein aber pflege - die Erinnerung. -
Lenzende Dorfheimat. Wie vielmal habe ich dir schon nachgeträumt. Wie vielmal sind meine Gedanken fortgewiegt, einem bunten Frühlingsalter gleich, über deine Wiesen, deine Bachläufe, Haine und Raine, Täler und Höhen. - Und jedes Mal noch ist meine Seele satt geworden im Erinnern, was du mir warst und bist - lenzende Heimat.