Lengenfelder gehen auf die Barrikaden: Bahn-Viadukt soll bleiben (1990)
Dass es noch existiert und dass sich die Bevölkerung aus Lengenfeld heute für seinen Erhalt ein-setzen kann, das ist unbestritten das Verdienst des früheren Bürgermeisters Franz Müller sowie „seines“ Ortsdieners Karl Braun: Die Rede ist vom Lengenfelder Viadukt, das am 1. September 1879 vollendet wurde.
Müller und Braun waren es, die im Frühjahr 1945 den Sprengstoff, der zur Sprengung der Brücke bereitlag, in einer Nacht- und Nebelaktion – ohne an die Schwierigkeiten zu denken, die sie erwarteten, hätte man sie erwischt – abtransportiert und in dem kleinen Teich beim Erholungsheim Bischofstein versenkt haben.
Dass die Lengenfelder Bürger gewillt sind, für den Fortbestand dieses historischen Bauwerkes auf die Barrikaden zu gehen, das bewiesen sie am gestrigen Mittwoch, als sie in den Mittagsstunden vor dem Bürgermeisteramt für den Erhalt des Brückenbauwerkes demonstrierten.
Bürgermeister Augustin Dienemann, der wusste, wo der Bevölkerung der „Schuh drückt“, wandte sich in einem Schreiben an die Reichsbahndirektion sowie an den Rat des Bezirkes Erfurt mit der Bitte, die Lengenfelder Bevölkerung über die geplanten Maßnahmen der Eisenbahnlinie von Leinefelde bis Geismar, besonders aber über das Brückenbauwerk in Lengenfeld zu informieren.
Dem Wunsch des Bürgermeisters kamen am gestrigen Mittwoch der Beauftragte des Präsidenten der Reichsbahndirektion Erfurt für territoriale Koordination, Günter Wollert, sowie Gerd-Peter Jensch vom Transportbüro des Rates des Bezirkes Erfurt nach und sprachen vor den Bürgern über die gegenwärtige Situation der Eisenbahnlinie und über die Brücke.
Günter Wollert, der als erster das Wort ergriff, trat allen Gerüchten entgegen, dass die Reichsbahnstrecke 666 von Leinefelde über Dingelstädt nach Geismar in Kürze geschlossen werde. Dies, so Wollert, sei nicht der Fall, weil die Reichsbahn nach den gültigen Gesetzen der DDR keine Strecken stilllegen könne, ohne die Kommunen und die Bevölkerung im Bereich der Bahnlinie gefragt zu haben.
„Die Eisenbahn wird vorerst weiterfahren, ich weiß, wie Sie an dieser Strecke, die durch eine wunderschöne Landschaft führt, hängen. Haben wir auch vor einiger Zeit den Güterverkehr von der Strecke genommen, so wird vorläufig der Personenverkehr, obwohl die Strecke sehr schlecht frequentiert ist, weiter bestehen“, sagte Wollert. Man komme aber nicht darum herum, dass man in Zukunft die Rentabilität im Auge haben müsse, unterstrich er. Nach seiner Meinung ist an eine Stilllegung der Bahnlinie von Leinefelde nach Geismar nicht vor dem 31. Dezember 1992 zu denken.
Auf die über 110-jährige Brücke eingehend, stellte der Reichsbahner fest, dass eine Renovierung nach gegenwärtigen Schätzungen mit rund fünf Millionen Mark zu Buche schlagen werde. Wollte man die gesamte Strecke von Leinefelde bis Geismar, einschließlich der Brücken und Tunnels, sanieren, müsste die Bahn zirka 15 Millionen Mark investieren, und dies bei Einnahmen von nur 900 Mark monatlich, bei Erhaltungskosten, die um ein 100-faches höher liegen.
Er schlug vor, zum Erhalt der Brücke eine Interessengemeinschaft zu gründen, die eventuell später die Trägerschaft übernehmen könne. Abschließend sagte Wollert, „Lengenfeld unterm Stein ist ohne die Brücke nicht Lengenfeld“; er sprach die Hoffnung aus, dass es gelinge, in gemeinsamer Arbeit das historische Bauwerk für die Nachwelt zu erhalten.
Gerd-Peter Jensch vom Rat des Bezirkes Erfurt bedauerte es, dass beim Rat des Bezirkes bis zum heutigen Tage noch keine Anfrage nach Wiederaufnahme des Güterverkehrs auf der Strecke Leinefelde-Geismar vorliege. Sollte es Betriebe oder Kommunen geben, die Interesse an der Wiederaufnahme des Güterverkehrs bekundeten, dann sollten sie sich bis zum 31. August beim Rat des Bezirkes melden. Nach den Ausführungen von Gerd-Peter Jensch herrscht im Rat des Bezirkes die Meinung vor, dass die Strecke und die Brücke in absehbarer Zeit nicht angetastet werden dürfen. Auch er schlug eine Interessengemeinschaft vor, die Überlegungen anstellen sollte, wie gemeinsam die Mittel zur Finanzierung der Brücke aufgebracht werden könnten. Er versprach, dass sich der Rat des Bezirkes starkmachen wolle, damit sich die Regierung in Berlin finanziell an dem Erhalt der Brücke beteilige.
Unterschriften gesammelt
Das Mitglied der Bürgerinitiative „Rettet die Brücke“, Hans-Georg Hildebrandt, gab während der Demonstration bekannt, dass sich, ohne dass die Aktion abgeschlossen sei, schon 621 Lengenfelder Bürger mit ihrer Unterschrift für die Restaurierung und somit für den Erhalt des Viadukts eingesetzt hätten. Er teilte mit, dass man das ZDF eingeschaltet habe mit der Bitte um Unterstützung der Aktion. Wenn das Gehörte auch recht erfreulich klinge, so warnte Hildebrandt davor, die Versprechen nicht zu halten, sonst würde es ein zweites Brockdorf, diesmal aber in Lengenfeld, geben.
Die Demonstranten führten, um ihren Forderungen mehr Nachdruck zu verleihen, Plakate mit, auf denen unter anderem zu lesen war: „Laßt doch uns’re Brücke stehn, sie macht unseren Ort so schön“, bzw. „Marmor, Stein und Eisen bricht, aber unsere Brücke nicht.“
Eines ist heute schon klar: Die Lengenfelder Bevölkerung lässt sich nicht mit leeren Versprechungen abspeisen, denn sie steht wie ein Mann hinter der Forderung „Unsere Brücke muss der Nachwelt erhalten bleiben“.
(Quelle: „Werra Rundschau“, Ausgabe vom 08.03.1990)
Bildunterschrift:
Für die Erhaltung und die Restaurierung der über 110 Jahre alten Eisenbahnbrücke bei Lengenfeld unterm Stein demonstrierten in den gestrigen Mittagsstunden zahlreiche Bürger aus dem Eichsfelddorf vor dem Bürgermeisteramt. Obwohl Redner von der Reichsbahndirektion Erfurt und vom Rat des Bezirkes Erfurt versprachen, dass das Viadukt der Nachwelt erhalten bliebe, ist man in Lengenfeld unterm Stein noch sehr skeptisch.
Bildquelle: Werra Rundschau