Lengenfeld unterm Stein - Langer Viadukt, langes Feld und lange Straße

Wer durch Lengenfeld im Tal der jungen Frieda wandert, sieht ein anmutiges Bild in einer reizvollen Landschaft. Er spürt die Nähe der Natur, das Herandrängen der Wälder. Hier ist man noch mit Feld und Wald verbunden. Das schmucke Dorf am Südrand des Eichsfeldes muss man auf den ersten Blick liebgewinnen, woher man auch kommt, von Geismar, Hildebrandshausen, Struth, Effelder oder Bartloff. Drei Wahrzeichen sind über das Dorf verteilt, wo alte Bauerngeschlechter einst in der langen Straße Hof an Hof bauten. Fachwerk prägt heute noch das freundliche Bild des Dorfes inmitten der weiten, grünen Welt der Hügel und Wälder. In seinen Wahrzeichen wurzelt dieses Dorf tief in der Vergangenheit. Diese Zeugnisse stehen noch in echter, lebendiger Beziehung zum heutigen Tag. – „Droben stehet die Kapelle …“ An dieses tiefe, klangvolle Lied Uhlands dachte ich oft in froher Jugendzeit, wenn ich an den Bittagen die das Dorf beherrschende Kirche in lichter Höhe auf dem Kirchplatz vor dem Bahnhof erblickte. Die neugotische Pfarrkirche „ad Beatam Mariam“ unter Pfr. Großheim (1882-84) erbaut, eine dreischiffige Hallenkirche, besticht durch ihre schlichte Schönheit. Hier auf einem Felsen am Bergeshang stand schon im 12. Jh. eine mittelalterliche Wehrkirche mit Wehrturm und Mauer. Hier war der Mittelpunkt des alten Kirchspiels, das zu den ältesten christlichen Niederlassungen im Friedatal zählt. An dieser Stelle wurde 1719 die zweite Pfarrkirche erbaut. Der Unterbau des Turmes stammt noch aus dem Jahre 1719, 1882 um 10 m erhöht und mit Spitze versehen. Im Innern der mächtigen Kirche befindet sich der Marienaltar mit „Immaculata“, ein großes Kreuz, Deckengemälde, Glasmalerei in den Fenstern, eine ergreifende „Pieta.“ Die Lourdesgrotte und eine schöne Bildsäule zeugen von echter Religiosität und Heimatliebe. Die Geschichte der 1. Kirche ist eng mit dem alten Stift „St. Cyriakus“ zu Eschwege verbunden gewesen (1100-1527). Das Stift war bis zur Auflösung Patronatsherr der Pfarrkirche (Patronatspfarrei). Es liegen Urkunden des Stifts über die Besetzung der Pfarrstelle aus den Jahren 1504 und 1506 vor. Der Waldbesitz um Lengenfeld ist aus mehreren Stiftsurkunden ersichtlich (s. Huyskens „Klöster an der Werra“, Urkunden und Regesten).

Schon mancher Reisende, der mit der Eisenbahn Lengenfeld berührte, war überrascht, wenn er unerwartet über den langen Viadukt fuhr und auf das tief im Tal liegende Dorf hinabschaute. Eine lange Eisenbahnbrücke, ein gewaltiges Bauwerk mit mächtigen Pfeilern überspannt formschön seit bald 100 Jahren das Tal der Frieda. Hier unten führte schon seit Jahrhunderten die alte Handelsstraße mit ihren in Fachwerkbauweise errichteten Bauernhäusern über den Bach, weiter nach Mühlhausen. Was könnte die Brücke alles erzählen! Es lag noch tiefer Friede über Lengenfeld in der bäuerlichen Welt mit weiten Einsamkeiten, als 1880 die erste Eisenbahn das Dorf mit der Welt verband. In diesem Jahr wurde die vom Staat erbaute Strecke Leinefelde – Eschwege – Treysa eröffnet, auch „Kanonenbahn“ genannt, weil sie dem Militärtransport dienen sollte. Der Chronist hat in der Jugend noch oft erzählen hören, was alles los war während der Bauzeit (1875-1880). Der Bahnbau war kostspielig. Viele Durchbrüche, lange Tunnel, hohe Brücken waren erforderlich. Der Tunnel, 1 km nordwestlich von Büttstedt, 1.536 m lang, kostete damals 1.500 Mark pro Meter. Am Bahnbau waren viele italienische Arbeiter beschäftigt. So logierten 20 Tunnelarbeiter in Büttstedt. Fremdarbeiter wohnten in Lengenfeld und Geismar. Einige Ausländer sind in unseren Dörfern ansässig geworden. Die Leute waren allgemein von der neuen Eisenbahn noch nicht erfreut. Die Mehrzahl war indifferent. Die Bauern haben z. T. gut verdient (Lieferung und Fuhren von Steinen aus Steinbruchbetrieben). Wie an anderen Orten brachte auch hier die Bahn nach 1880 neues Leben, Aufschwung und Verbindung nach der Welt. Die damalige 4. Klasse nahm bald junge und ältere Arbeiter auf, die in der Fremde ein neues Leben beginnen wollten. Aber, wohin sie auch fuhren und was aus ihnen wurde – es ist aus gar manchen etwas geworden – Eichsfelder blieben sie. Das Heimweh nach den Bergen und Wäldern hat sie nie verlassen.

In Lengenfeld konnten sich die Großväter und Großmütter mit der Bahn und der stolzen Brücke über ihren Häusern nicht abfinden. Wenn eine Lok heranbrauste, pflegten die Alten zu sagen „Werr sön Deiwel, loß uss schnell werr ins Hüs genn.“

In halber Bergeshöhe liegt ein repräsentatives Haus, das bekannte Schloss Bischofsstein, ein 1747/48 errichtetes Bauwerk des Meisters Heinemann aus Dingelstädt. Damals erbaute Heinemann auch in Heiligenstadt ein Schloss, die alte fürstbischöfliche Residenz, eine großzügige Anlage. Auf dem Schlosshof vom Bischofsstein sehen wir das erzbischöfliche Wappen mit den Jahreszahlen. Das Schloss fügt sich harmonisch dem Dorfbild ein. Hier ist eine Stätte der Erholung in landschaftlicher Schönheit, wie man sie selten findet. In unserer Jugendzeit war hier ein Schulheim.

Die Geschichte von Lengenfeld ist vom Schloss und der ehemaligen Burg Stein auf der höchsten Erhebung des Burgberges nicht zu trennen. Der steinerne Zeuge einer alten, sagenumwobenen Burg kündet von einer 700-jährigen Vergangenheit im kurmainzischen Raum. Hier auf den Felsen des Burgberges stand einst „Castrum Steyn“, Burg Stein (aus etwa 1080) mit der St.-Georgskapelle. Dazu gehörte unterhalb „oppidum Stein“, ein Marktflecken. Graf Giso von Gudenberg, fränkischer Ritter aus altem Geschlecht im Marburger Land, erbaute die Feste zum Schutz seiner Güter im Tal der Frieda an einer Stelle, wo einst eine Wallburg stand. Es war etwa zu derselben Zeit, als Ludwig der „Springer“ die Wartburg erbaute. Der Besitz der Burg Stein mit den zugehörigen Dörfern erscheint urkundlich 1138, 1281, 1351, 1358, 1426. Vögte mit Burgmannen walteten ihres Amtes. In Lengenfeld und Geismar waren Burgmannssitze des kleinen Herrschaftsbereiches. Daran knüpfte sich nach 1400 die Mainzer Amtsverwaltung, die als „Amt Bischofsstein“ mit 18 Dörfern hervortrat.

Unter der Herrschaft der thüringischen Landgrafen (1137-1241)
Die Güter der hessischen Grafen von Gudenberg bei Lengenfeld und Geismar im Umkreis der Burg Stein gingen um 1137 mit dem Gesamtbesitz der Gudensberger als Allodialerbe in den Besitz der thüringischen Landgrafen aus dem Geschlecht der Ludowinger über. Es war die Zeit, in der Graf Ludwig l., Sohn des Erbauers der Wartburg, durch König Lothar mit der Landgrafschaft Thüringens belehnt, die Landgrafenwürde errang. Schon 1130 war die Grafschaft des Leinegaugrafen Hermann von Winzenburg, der nach Zerstörung der Winzenburg durch König Lothar von Sachsen von den in Quedlinburg versammelten Reichsfürsten in die Acht getan und seiner Güter an der Werra und Leine verlustig erklärt worden war, auf die Landgrafen von Thüringen übergegangen.

Auf der felsigen Kuppe des Burgberges wurden bei Ausgrabungen in unseren Tagen Mauerreste der umfangreichen Burg gefunden. In Geismar gab es noch lange Zeit hessische Mannen, als nach dem Tode Gisos die Grafschaft Hessen an Ludwig I. gekommen war (Gemahl der Hedwig, Erbtochter des Giso). Die „Grafschaft an der Werra“ gehörte territorial zu Thüringen (1130-1265). Um 1164 wurde die Marburg bei Haynrode und die Burg auf dem Rusteberg auf Befehl Barbarossas durch den sagenberühmten Landgrafen von Thüringen Ludwig II. „der Eiserne“ (1140-72) zerstört. EB Konrad v. Mainz hielt es mit den Gegnern des Kaisers. Ludwig III. (1172-90) wurde 1180 von Heinrich dem Löwen (Herzog von Braunschweig) der Besitzungen auf dem Eichsfeld hatte, bei Struth besiegt und gefangen genommen, Mühlhausen, Nordhausen und das Eichsfeld wurden verwüstet.

Das Jahr 1180 war eine Katastrophe für das Eichsfeld und für ganz Deutschland. Der Sachsenherzog Heinrich der Löwe, zunächst ein Günstling und Paladin von Kaiser Friedrich l. (Barbarossa) wird durch die Hausmachtpolitik des großen Kaisers immer mehr sein Gegner. Auf dem Reichstag zu Erfurt wird der Weifenherzog seiner Herzogtümer verlustig erklärt und die Reichsacht über ihn verhängt. Die zu einem Reich zusammengefassten Stammesherzogtümer waren von hier an zerstört. Das alte Sachsenland wurde in eine östliche und westliche Hälfte zerlegt. (Ostfalen und Westfalen). Bayern kam an die Wittelsbacher. Der Erzbischof von Köln wurde Landesherr im sogenannten Herzogtum Westfalen. Die Bischöfe von Münster und Osnabrück wurden in ihren Bistümern selbständige Landesherren. Landgraf Hermann l. (1190-1217) hatte um 1199 die Wartburg zur Residenz erhoben. Fahrende Spielleute und Minnesänger weilten auf der Wartburg. Walther von der Vogelweide (1176-1280) – „swer des vergaez’, der taet mir leide“ –, nimmt am „Sängerkrieg“ teil, auch Wolfram von Eschenbach, Veldecke u. a. 1194 kämpft EB Konrad gegen Hermann. Ludwig IV., der „Fromme“, Gemahl der hl. Elisabeth, Freund von Kaiser Friedrich II (1217-1227) erobert 1219 die Burg Scharfenstein. 1221 schenkt er bei seiner Vermählung seiner Gattin Elisabeth (Tochter eines ungarischen Königs) „castrum Steyne“, unsere Burg Stein, Elisabeth wohnt von 1223 bis 1228 durchweg auf Schloss Creuzburg an der Werra und hat in dieser Zeit vermutlich auch ihren Besitz bei Lengenfeld, die Burg Stein, besucht. Ludwig nimmt als einziger deutscher Reichsfürst am Kreuzzug Friedrich II. teil, von dem er nicht zurückkehrt, (+ 1227). Dem „Bamberger Reiter“ im Dom zu Bamberg hat man Ludwigs Namen gegeben. Ludwigs Sohn war 1227 erst 4 Jahre alt. 1231 starb Elisabeth in Marburg und wurde schon 1235 heilig gesprochen. In Marburg errichtet sie ein Spital und verbringt ihr Leben in Liebe zu Christus und seinen geringsten Brüdern. Über ihrem Grabe ersteht die älteste gotische Kirche Deutschlands (1235-83). Hindenburgs Grabmal befindet sich seit 1945 auch in dieser Kirche. Hermann II. starb schon 1242, vermutlich durch Gift. Heinrich Raspe, Bruder Ludwigs, übernahm die Regentschaft. Er vereinigte widerrechtlich alle thüringischen und hessischen Länder in seinem Besitz. Mit Raspe erlosch das Geschlecht der Ludowinger, der Helden vieler Sagen. Vinzenz Gerlach, der Schriftleiter unserer „Heimatstimmen“, hat 1969 in einem Vortrag über Duderstadt auf die Beziehungen Raspes zu Duderstadt hingewiesen. Die Mark Duderstadt war Raspe urkundlich 1236 zum Lehen gegeben worden (siehe Eichsfelder Heimatstimmen, Nr. 2 – 1971).

Um das thüringische Erbe kam es zu heftigen Fehden. Der thür. Erbfolgekrieg zog ganz Mitteldeutschland in Mitleidenschaft (1247-1264). Sophie von Brabant erhob Anspruch auf die Burg Stein und den Besitz in der „Windischen Mark“ im Friedatal. Die Herzöge von Braunschweig nutzten die Wirren der Zeit nach Raspes Tod aus.

Herzog Albrecht von Braunschweig, vermählt mit Elisabeth (Tochter der Sophie von Brabant) führte den Kampf gegen Heinrich den Erlauchten, Markgraf von Meißen. Albrecht bringt auch das durch Heinrich Raspes Tod erledigte Quedlinburger Lehen, die Mark Duderstadt, an sich. Um 1250 wird die Creuzburg belagert. Die freien Reichsstädte Miihlhausen und Eschwege wurden angegriffen. Markgraf Heinrich zerstört Dörfer an der eichsfeldischen Grenze. Die Burg Stein wird in diesen Fehden behauptet. Herzog Albrecht wird 1263 bei Wettin geschlagen. Der Erbfolgekrieg war damit beendet. Sophie v. Brabant verzichtet in einem Vergleich auf ihre Ansprüche in Thüringen (1284). Die Wettiner treten das Erbe der Landgrafen an. Die Burg Stein mit Eschwege und Wanfried kommt an das Haus des Markgrafen von Meißen, die Mitrecht am „Stein“ besaßen und dort eigene Burgmannen hielten (1298-1409). Im 13.14. Jh. erscheinen alte, mächtige Rittergeschlechter aus der thür. Werralandschaft und aus dem Eichsfeld als Burgmannen „uff deme Steyn“ - die von Proysen in Wanfried, die Bilsteiner Grafen, die Boyneburger, die von Koydell (Keudel), die von Ershausen, die von Hanstein. Diese Ritter spielen durch Jh. eine große Rolle. Wir hören von vielen Fehden. König Adolf von Nassau liefert Eschwege in der thür. Werralandschaft den hess. Landgrafen aus (1292). Wanfried kommt 1306 in hessischen Besitz.

Unter den Amtsvögten in Mainzer Zeit ragt Urban Ignaz Glesener hervor (1646-1706). Er stiftete mit seinem Vermögen das Knabenwaisenhaus in Heiligenstadt (s. Lebensbild in „Gestalten des Eichsfeldes“, Nr. 60). Der letzte Richter auf dem Bischofsstein war Christoph Löffler aus Großbartloff (1793). Er erbaute in der Franzosenzeit (1807/10) in der Hintergasse in Geismar ein stattliches Fachwerkhaus aus Eichenholz mit mächtigem Walmdach und großen Kellern, das nach Bauart und Einteilung als Gerichtsgebäude vorgesehen war. Dazu gehört ein Dorf im Harz-Departement, Distrikt Heiligenstadt, Cantonmairie Bartloff. Ortsmaire (Schulze) war in dieser schweren Zeit Urgroßvater Döring (altes Geismarer Bauerngeschlecht) von Maria und Hedwig Döring, Ehefrauen der Lehrer und alten Heimatfreunde Feldmann und Röhrich. Am „Haus Löffler“, in unserer Zeit „Haus Pape“. lenkten 2 Wandsprüche (Inschrifttafeln) oft unsere Blicke auf sich. Da stand ein Chronogramm, das die Jahreszahl 1810 aufweist. Es erinnert an die Eheschließung Napoleons mit Marie Louise von Oesterreich und verknüpft damit eine Anspielung auf das bekannte Wort = „Tu, felix Austria, nube!“ „Du, glücklicheres Österreich, gewinnst Länder nicht durch Krieg, sondern durch die Ehen Deiner Töchter!“

1. ae Des s Urre XI feLIX en a Ustrlan Übet
VU Lnera Corre Xlt napoLeon l a Mor.
(Aedes surrexi felix,
En Austria nubet!
Vulnera sorrexit Napoleonis amor)
„Das Haus baute ich, als das glückliche Österreich heiratete.
So heilte Napoleons Liebe unsere Wunden!“

Judex Löffler, Christophorus.

In diesem Haus war um 1828 die Oberförsterei. Beim Onkel Oberförster Witzel verlebte Karl Strecker aus Dingelstädt, Arzt, Sammler, Schriftsteller in Dingelstädt (1818-1887) gern seine Ferienzeit. Er streifte durch Berg und Tal, Feld und Wald. Seine große Naturaliensammlung sehen wir im Heimatmuseum in Heiligenstadt. –

O, du liebes, schönes Jugendtal, grüß Dich Gott, mein Tal vieltausendmal! Nun bin ich schon lang fort von der alten Heimat und komme nicht mehr dorthin. Aber vergessen habe ich nicht das schmucke Dorf am Friedastrand, den alten „felde“ Ort im langen Feld mit altansässigen Bauern, die lange Dorfstraße, deren Urzellen mit weiten Siedlungsflügeln (Ober- und Unterlengenfeld) in die fränkische Zeit zurückreichen (6.-10. Jh.). Was diesem Erholungsort einen so hohen Reiz verleiht, sind die vielen Wandermöglichkeiten in Wald und Feld, Berg und Tal. – Nur kurz sei hier der vielen verdienten Männer mit hohen Geistesgaben gedacht, die in Lengenfeld geboren sind oder hier segensreich gewirkt haben. Wenn ich in dem Buche blättere, das den „Eichsfeldia is piis, doctis et claris“ gewidmet ist, aus „Gestalten des Eichsfeldes!, finde ich Namen aus Lengenfeld zahlreich vertreten: Lambert Rummel, Adam Richwien u. a., deren Wirken im Dienste der Heimatarbeit noch heute lebendig ist.

Otto Martin
(Quelle: Eichsfelder Heimatstimmen. Nr. 2 – Februar 1975)