Lengenfeld und Schloss Bischofstein am Ende des 2. Weltkrieges - Ein Augenzeugenbericht von Hedwig Ripke (1945)
Seit die Postverbindung zwischen den einzelnen Besatzungszonen wieder möglich ist, kommen von allen Seiten die Anfragen: Wie sieht es in Bischofstein aus? Was macht ihr jetzt? Wie ist es Euch ergangen?
Auf die erste Frage ist die Antwort einfach: Bischofstein steht ganz unbeschädigt da. Auf die zweite können wir, wie mein Mann Euch schrieb, noch nichts Bestimmtes sagen. Aber wie es uns ergangen ist, davon will ich Euch ein wenig erzählen. Ich fange mit den Ereignissen in der Osterwoche an, als die Amerikaner näher und näher rückten. Am Karfreitag brachten wir unsere wertvollsten Sachen in die Keller und richteten diese zum Aufenthalt ein. Sonnabend kamen 150 Mann Fallschirmjäger nach Bischofstein, die aber bald weiterzogen. Am Ostersonntagnachmittag erschien auf dem Motorrad Hans Albers-Schönfeld von Dieterode aus, wo er in Stellung lag. Jahrelang hatten wir nichts von ihm gehört und gesehen. So freuten wir uns sehr.
Am Ostermontagfrüh hören wir plötzlich im Hof Englisch sprechen. Wir denken schon: die Amerikaner! Aber es sind gefangene Engländer, die aus ihrem Lager in Spangenborg hierher gebracht wurden. Über 100 Mann. Am Abend fährt der letzte Zug vorbei, und ist seitdem keiner mehr durchgekommen, da die Brücken bei Frieda und Küllstedt ganz zerstört sind.
Am Dienstag hören wir, Wanfried und Eschwege seien besetzt. Artilleriefeuer auf den Höhen über uns weg.
Als ich Mittwoch im Dorf bin, ruft man mir plötzlich zu: die Amerikaner kommen von Hildebrandshausen her! Ich laufe nach Hause. Am Nachmittag kommen sie mit ihren Panzerwagen und besetzen das Dorf. Am nächsten Morgan erscheinen sie auch in Bischofstein.
Freitag: Die Amerikaner machen Einmannlöcher in unsere Felder und ziehen zum Stein (Schlossberg über dem Bischofstein) hinauf. Heftiges Schießen. Zwei verwundete deutsche Fallschirmjäger werden von dort heruntergebracht. Später finden wir zwei tote deutsche Soldaten gleich unterhalb des Steins und zwei andere etwas weiterhin auf der Höhe. Sie liegen auf dem Lengenfelder Friedhof begraben.
Sonnabend: schwere Kämpfe in Struth. Der Himmel ist blutrot vom Widerschein des Feuers. Viele Höfe und Scheunen sind niedergebrannt.
Sonntag: der große, schöne Kastanienbaum an der Ecke beim Doktorhaus (Ecke Schlossweg/Schulstraße) wird von den Amerikanern gefällt, ein Geschütz dort aufgefahren, Wegsperren werden gebaut.
Montag: Das Schießen lässt hach. Nur ein Geschütz auf dem Schlossberg sieht noch drohend ins Dorf hinab, aber auch das verschwindet bald, ebenso die Wegsperren.
Am Donnerstag, dem 19. April, heißt es: Das ganze Schloss für die Amerikaner räumen! Alles, was noch zur Heimschule gehört, zieht ins Dorf, in das Schulgebäude dort. Uns wird erlaubt, in Kaufholds (ehemals Bollmanns) Wohnung überzusiedeln, weil sie einen besonderen Ausgang hat. Den Amerikanern hat es aber bei uns nicht gefallen, sie zogen es vor, sich nach Wanfried auf den Kalkhof zu Scharfenbergs zu begeben. Wir sind trotzdem in unserer neuen Behausung geblieben. Sie hat zwei Vorzüge: Ihre niedrigen Zimmer sind leicht heizbar, und sie liegt unmittelbar bei den landwirtschaftlichen Gebäuden. Die Heimschule hatte sich inzwischen von selbst aufgelöst. Lengenfeld erhält eine amerikanische Besatzung von etwa 100 Mann. Es kommen tagtäglich Scharen von Amerikanern herauf, um in unseren Baderäumen zu baden.
Anfang Mai sieht man die ersten Flüchtlingsfamilien in Bischofstein einziehen. Aus allen Teilen Deutschlands kommen sie.
Wie viel Jammer und Elend, aber auch wie viel Heldenmut und innere Größe! Wie tragen diese Menschen ihr schweres Schicksal! Man wird ganz still vor Bewunderung und Ehrfurcht. – Erst war es ein häufiges Kommen und Gehen. Jetzt, wo der Winter seinen Einzug gehalten hat, sind sie etwas sesshafter geworden. Jede Familie hat glücklich ihr Öfchen oder ihren Herd. Aus den Kasernenbuden, wo es keine Kamine gibt, rauchen die Ofenrohre zum Fenster hinaus. Unmengen von Holz werden herbeigeschleppt. Überall auf den Fluren liegt es schön aufgestapelt. Es wimmelt von Kindern im Haus und ist auch ein Krach auf dem Hof, wie in alten Zeiten. Wir sind aber froh, dass die entsetzliche Grabesstille, die zu Zeit der Heimschule hier herrschte, vorüber ist.
Für die Kleinsten muss nun was geschehen. Wie wäre es mit einem Kindergarten? Schnell wird eine Klasse eingerichtet. Eure schönen Zeichnungen und Malereien decken die Wände. Tische und Bänke werden abgesägt, und schon geht‘s los. Gisela Maßberg bringt die Sache in Schwung und später hilft ihr Renate, die ihr ja kennt.
In der Pfingstzeit kommen Käthe (Frau Günther) und Mariechen Vogt wieder zu uns, um zu helfen. Und was für eine Hilfe sind uns die beiden geworden! Seit einigen Wochen herrscht Käthe wieder ganz in der Küche und kocht für die Flüchtlinge das Mittagessen.
– Wir richten ein schönes Musikzimmer ein, unten im alten Kasino. Unsere besten Möbel kommen dorthin; Flügel, Klavier usw. Schmidts geben im Laufe des Sommers ein paar herrliche Konzerte dort. Einmal waren unter den Besuchern auch Scharfenbergs, die Eltern von Wölfi (gemeint ist der ehemalige Internatsschüler Wolfgang von Scharfenberg), die zufällig vom Kalkhof herüber gewandert waren, uns zu besuchen. Damals war Wölfi noch nicht zu Haus, kam aber bald hernach.
Übrigens: Schmidts Häuschen ist ein wahres Schmuckkästchen geworden, ihr würdet staunen.
Unsere Leseabende (früher Litis genannt) haben wir beibehalten. Und, da wir nun mal bei der Kunst sind, will ich von einer kleinen Aufführung erzählen, die wir schon im August bewerkstelligten. Auf der alten Bühne. Und zwar: „Die Puppenfee“ und „Pantomimische Szenen“ nach „Duettinen“ von Ernst Franck. Beides alte Bekannte von Euch! Im Haus waren reizende Kinder für die Püppchen. Es machte Mordsspaß! Auch war der Erfolg groß. Wir mussten die Aufführung wiederholen und beide Male war es brechend voll. Helmut Bauer hatte die ganze Theatermaschinerie wieder in Gang gebracht. Augenblicklich arbeiten wir an „Hänsel und Gretel“; das soll am ersten Weihnachtstag steigen, Hans Schmidt muss sich dabei als der leicht angeheiterte Vater betätigen, da uns Schorsch Beulke noch immer fehlt.
Alles dies war ein Abstecher und ich kehre nun zu den Flüchtlingen zurück. Unter ihnen sind eine Reihe Frauen, Mädchen, auch alte Omas, die uns sehr fleißig bei den landwirtschaftlichen Arbeiten geholfen haben. Das war herrlich. Ja, ehrlich gestanden, es war ein leichteres Arbeiten als mit Euch. Kein Schimpfen war nötig. Auch brauchte sich Billo nicht mit Kraftausdrücken wie f. S. zu erleichtern. Jetzt sind die Geschicktesten unter den Frauen dabei, etwas für Weihnachten zu schaffen. Über 60 Kinder sind da, die doch irgendeine kleine Freude haben sollen. Stofftierchen, Püppchen werden verfertigt. Auch unser neuer Tischlermeister, Herr König, zaubert allerhand Getier, Eisenbahnen, Lastwagen usw. Aber das ist ja alles Geheimnis und es darf nicht zu viel verraten werden. Auch nicht, wer den Weihnachtsmann machen soll! Wieder ein Abstecher! –
Da es keine Zeitungen gab, wer man lange Zeit ganz auf Gerüchte angewiesen. So hieß es immer wieder: Die amerikanische Besatzung rückt ab und die Russen kommen. Wir glaubten schon nicht mehr dran, da hören wir eines Morgens endloses Pferdegetrappel und siehe da: Auf der Straße von Hildebrandshausen her kommt ein langer Zug von Planwagen. Das sind die Russen. Und wirklich sind die Amerikaner fort nach Wanfried und Eschwege. Die Russen kommen auch zu uns herauf. Sie kampieren gerade vor unseren Fenstern, kochen dort und schlafen nachts unter dem Schuppen auf dem harten Zementboden. Sie freuen sich, dass sie mit meinem Mann und Ati Schmidt russisch sprechen können. Auch erzählen sie viel von ihrer Heimat und haben alle Sehnsucht nach Hause. Seitdem hat es sehr gewechselt mit der Besatzung und immer neue Kommandanten kamen. Einer von ihnen war besonders befreundet mit Billo. […]
Hedwig Ripke (1881 – 1954)
(Ehefrau des Bischofsteiner Internatsleiters Dr. Wilhelm Ripke)
(Quelle: „Chronik der Internatsschule Schloss Bischofstein“, Weihnachten 1945, Maschinenschrift, S. 4 – 6)