Lengenfeld und Bischofstein heute (1958)

Neue Texte zu verklungenen Melodien.


Da ein Besuch Bischofsteins für Bewohner der Bundesrepublik zurzeit unmöglich ist und selbst nur Bewohner der DDR nur in den seltensten Fällen genehmigt wird, ist es vielleicht ganz angebracht, wenn ich Buch Einiges davon erzähle, wie es hier aussieht.

Am äußeren Bild hat sich wenig geändert. Da die beiden Partner des Pachtvertrages – die Gewerkschaft Lehrer und Erzieher einerseits und ich als Besitzer andererseits – sich in die Kosten für die laufenden Instandsetzungen und die sogenannten Schönheitsreparaturen teilen, ist das Haus noch in ganz gutem Zustande.

Die zum Teil mit unseren Möbeln zum Teil mit denen der Gewerkschaft ausgestatteten Gästezimmer, zu denen fast alle Räume des Schlosses – auch die früheren Klassenzimmer und Schlafsäle – gehören, machen durchweg einen guten, wohnlich behaglichen Eindruck. Sehr schön ist der Speisesaal, der in der letzten Zeit einer grundlegenden Erneuerung unterzogen worden ist.

Schlafsaal 4 ist Ping-Pong-Zimmer; das ehemalige Musikzimmer (gegenüber dem am Heinitz-Haus gelegenen, kürzlich notdürftig instandgesetzten Tennisplatz) ist Vorführraum für Fernsehsendungen; der frühere Schlafsaal der Kleinen (Schlafsaal Frau Krüger) dient als Aufenthaltsraum und Schreibzimmer.

Es werden jeweils in vierzehntägigem Turnus – bis zur Höchstzahl von etwa 130 – erholungsuchende Gäste aufgenommen. Für die Unterhaltung der Gäste sorgen Vorträge, Konzerte und andere kulturelle Veranstaltungen; Ausflüge nach dem Hülfensberg, nach Eisenach, Mühlhausen, Weimar, Buchenwald erweitern dieses Programm.

Von unseren früheren Mitarbeiterinnen sind auch jetzt noch in Bischofstein tätig: die bewährte Küchenpräfektin Käthe und die sicherlich gleichfalls noch vielen von Euch in Erinnerung gebliebene Marie Vogt, Hausgehilfin und Mädchen für alles. Beide feiern in den nächsten Jahren das 25. Jubiläum ihrer Mitarbeit in Bischofstein.

Die Gäste sind gern in Bischofstein, nicht nur wegen der sehr guten Betreuung, die ihnen hier zuteil wird, sondern vor allem auch wegen der dem Auge wohltuenden, Körper und Geist erquickenden und entspannenden Anmut der abwechslungsreichen Mittelgebirgslandschaft, die auch mich, der ich 40 Jahre mit ihr erdhaft verwachsen und innerlich verbunden bin, immer wieder mit ihrem unvergänglichen Zauber umfängt.

Von der alten Garde, die einst in unserem landwirtschaftlichen Betrieb tätig war, lebt noch der 83-jährige Heinrich Riese, der 30 Jahre lang (1915 – 1945) als erster Gespannführer unsere Felder in Ordnung hielt. Er ist aber keineswegs der einzige Lengenfelder, der im biblischen Alter steht. Fast ebenso alt wie er ist der Bäckermeister Lambert Rummel, der Senior seiner Sippe, die bereits vier lebende Generationen umfasst.

Geistige Frische und körperliche Rüstigkeit hat sich auch der manchem von Euch vielleicht noch in Erinnerung gebliebene einstige Fellhändler Michael Hedderich bewahrt, der trotz seiner 86 Jahre immer noch fast ebenso flott wie früher sein Stahlross besteigt, das ihn in entlegene Dörfer bringt.

Rekordhalter unter den bejahrten Lengenfelder Knaben ist aber noch lange nicht er, sondern der einstige Zeitungsausträger Kattner, der noch im hohen Alter tagaus tagein mit kleinen Schritten nach Bischofstein heraufgetrippelt kam und heute 92 Lenze zählt. Ich schätze die Zahl der über 80-jährigen Lengenfelder auf etwa 30. Es scheint also, dass das Eichsfelder Klima – vielleicht auch der Eichsfelder „Feldkieker“ – der Erreichung eines hohen Lebensalters förderlich ist.

Lengenfeld hat sich in den letzten Jahren so entwickelt und herausgemacht, dass sein Bestreben, Stadt zu werden, keineswegs anmaßend erscheint. Seit dem Kriege sind sehr viel Neubauten entstanden, besonders an der Bahnhofsstraße und am sogenannten Schloßweg. Auch ich habe einige Grundstücke für Bauzwecke hergegeben, auf denen sich nun schlucke Häuschen erheben. Der Initiative unseres sehr aktiven Bürgermeisters ist es zu verdanken, dass viel für die Verbesserung und Verschönerung des Dorfes getan wird. Mehrere solide Brücken über die Frieda sind entstanden; eine Kanalisation, an der schon lange gearbeitet wird, soll im Laufe des nächsten Jahres fertiggestellt werden.

An den von den Fremden und Einheimischen am meisten begangenen Spazierwegen und den schönsten Aussichtsplätzen sind Ruhebänke aufgestellt; eine derselben trägt zu Ehren Meister Lambert Rummels den Namen „Lambertsruhe“. Unsere drei mächtigen Feldahornbäume in der Nähe des Bischofsteiner Friedhofes sind unter Naturschutz gestellt, worauf an den Stämmen angebrachte Holztäfelchen hinweisen.

Allmonatlich erscheint, vom „Kulturbund“ herausgegeben, das „Lengenfelder Echo“, ein Blättchen, das ein reichhaltiges Programm umfasst: Aufsätze aus dem Gebiet der Chronik von Lengenfeld, Plaudereien über die Fauna und Flora des Eichsfeldes (meist aus der Feder Meister Rummels stammend), Gedichte und Anekdoten in der heimischen Mundart, Bekanntmachungen des Gemeinderates, Vorschau auf Geburtstage der über 75 Jahre alten Dorfbewohner.

Schon seit ein paar Jahren hat Lengenfeld einen Verein der Geflügelzüchter, der Anfang Januar – ein erstmaliges Ereignis in der Geschichte Lengenfelds – eine Geflügelschau veranstaltet. Ich bin daran beteiligt mit einem Stamm Rhodeländer, einem Stamm New Hampshire, einigen Pekingenten und einem Bronzeputer, dem unumstrittenen Souverän des Geflügelhofes, der sowohl an majestätisch-gelassener Haltung, an bestechender Schönheit der Form, an Körpergewicht (etwa 25 Pfund), aber auch durch die Länge seines von der Brust herabhängenden kravattenähnlichen Haarbüschels jede Konkurrenz schlagen wird. Mit unantastbarer Würde trägt dieser kampferprobte Recke sein bitteres Schicksal, das ihn im Verlauf der letzten zwei Jahre fast aller seiner Artgenossinnen grausam beraubt hat. Nur eine einzige Gefährtin ist ihm geblieben, womit der an Monogamie nicht Gewöhnte sich resigniert abfinden muss. Aber sei nicht traurig, mein Lieber! Ich werde dafür sorgen, dass bald ein neuer Harem herangezüchtet wird. […]


Landwirt ohne Landwirtschaft
Nachdem ich, wie schon im letzten Jahr berichtet, die Bischofsteiner Landwirtschaft bewährten fachmännischen Händen anvertraut habe und mir diese mich materiell und seelisch entlastende Neuordnung gezeigt hat, dass ein auf gegenseitiger freundschaftlicher Anerkennung beruhendes Verhältnis zwischen Verpächter und Pächter durchaus möglich ist, habe ich mir ein ganz kleines Teilgebiet landwirtschaftlicher Betätigung, den Geflügelhof, mit seinem um die Hälfte verringerten Tierbestand reserviert, und obwohl die Rentabilität dieses geschrumpften Restbetriebes äußerst fraglich erscheint, da ich ja das Futter nicht mehr erzeuge, sondern zu erhöhten Preisen kaufen muss, habe ich mich doch entschlossen, mich von dem eierlegenden, fleischspendenden gefiederten Getier nicht zu trennen, zumal die Tauschquote Eier gegen Getreide sich neuerdings etwas günstiger gestaltet hat.

Die 36 Legehennen, die ich behalten habe, leisteten mit insgesamt 4.600 Eiern einen ganz respektablen Beitrag für die Volksernährung. Ganz richtig ist diese Aufstellung allerdings nicht; denn mit einbegriffen in diese Zahl sind auch die paar hundert Eier, die ich dadurch zusätzlich erhalten habe, dass ich Bruteier von meinen vier amerikanischen Pekingenten (natürlich alles Herdbuchtiere mit Bewertungskarte und Körbescheinigung) im Tauschverhältnis von 1:2 abgab. Zu meiner Freude konnte ich auch der Lengenfelder LPG, die in diesem Jahre mit der Aufzucht Pech gehabt hatte, mit 1.300 Eiern aushelfen, wofür ich Getreide eintauschte. Man kann also auch seine Landwirtschaft abgeben und dabei doch – fragmentarisch und rudimentär – volksernährender Landwirt im Kleinstformat bleiben. […]


Dr. Wilhelm Ripke
(Quelle: „Bischofsteiner Chronik“, Weihnachten 1958, S. 5 – 9)