Kleider machen Leute oder: Mein erster Hut und der "Schwarze" mit dem Samtkragen
Lebtages hätte ich nicht an die Wahrheit des obigen Sprüchleins: Kleider machen Leute, geglaubt, wenn ich es nicht selbsten erlebt hätte, dass dem richtig so ist. Wenn einer so in die Jahre kommt, wo das Flaumenhaar unter der Nase sich anschickt, so langsam zum Schnauzbart zu avancieren, kommt einwenig Eitelkeit in den Menschen. Von dieser Schwäche sind auch Dorfjungen nicht ganz frei. Du lieber Himmel! Man muss doch mit der Zeit mitmachen. Solange einer in die Schule geht, also nicht „auf die Schule“, geht es an, dass er barhäuptig und kurz geschoren einhergeht. Ja, das geht an - und geht niemand etwas an. Den schulentlassenen Dorfjungenschädel aber muss ein Krempenhut schmücken. Ein bisschen Dufthaar beiderseitig über den Ohrwatscheln, das Hütchen ein bisschen flott, das heißt schief aufgezwickt, da staunt einer, wie schnell aus dem Dorfjungen dann ein Dorfbursche geworden ist.
Freilich wollen diese Umwandlung noch nicht alle Leute anerkennen. Aber ändern können sie es nun dennoch nicht und wenn sie so einen auch noch oftmalen einen dummen Lausejungen, Trotzkopf, Grünschnabel nennen oder ihm sonstige traditionelle Neben- und Übergangstitel an den Kopf werfen. Der neu gebackene Dorfbursche bleibt derartigen Angriffen gegenüber auch nichts schuldig und er gibt zurück, sofern er es nicht vorzieht, es nur zu denken: Mal eher einer gewesen als ich. Ist’s aber grad’ so ein ganz gerissener, wie seiner- und meinerzeitig der Simmelfranz einer war, so denkt er wohl noch dieses: Wirst zeitig auch wieder einer werden. Der Simmelfranz, ja das war einer! Von dem weiß ich eine sonderbarliche Rede aus der Zeit, wie wir beide Dorfjungen gewesen. -Und am End hat er doch Recht gehabt damit. Was das für eine Rede gewesen, dem Simmelfranz seine? Der Simmelfranz behauptete immer, wenn wir lange genug klein gewesen, würden wir groß.
Die Großen aber würden wenn sie lange genug groß gewesen, wieder klein werden. Dann könnten wir, die groß gewordenen Kleinen, den Spieß herumdrehen und alles bliebe dennoch in schönster Weltordnung, nämlich, dass die Großen die Kleinen verprügelten nach jeweiligem Bedarf und Ermessen, sich von ihnen die Schuhe zu Sonntags wichsen ließen und Priem und Schnupftabak besorgen. Also wollten wir fein Geduld geben, bis es so weit wäre. Am meisten kam der Simmelfranz immer zu solcher Philisophisterei, wenn ihm Vater Simmel, der derzeit grade groß war, wie der Franz klein war, der bestehenden Weltordnung gemäß sich bewogen fühlte, dem Fränzchen etwas aufs Hinterquartier zu verabfolgen. Am End hatte der Simmelfranz Recht, sag ich. Denn - als Schulbub’ ging ich barhaupt, als Dorfbursch’ behutet - und jetzt barhaupt.Werde bald wieder ein Dorfjunge sein! Und darauf tät ich mich freuen.
Jemine, war das ein Tag, wo ich zum ersten Male eine Hut trug! Zwar war er mir ein bissel knapp, denn Onkel Vinzenz, der sich eines „guten Geschmackes“ rühmte, hatte ihn auftragsweise in der Stadt gekauft, ohne mir vorher gewissenhaft den Schädel zu messen. So ging er mir immer, wenn ich ihn aufsetzte, ein bissel aus dem Geschick. Onkel Vinzenz meinte, das habe nichts auf sich, knapp wäre Mode und man würde Hüte bald allgemein also tragen. Immerhin dauerte es eine Zeit, bis ich mich an meinen Hut gewöhnt hatte. So vergaß ich manchmal, ihn zu ziehen vor Leuten, die es wert gewesen wären. Da kann man einem Dorfjungen manchmal Unrecht tun und meinen, es wäre „stoffelig“. -Jetzt wiederum, wo barhäuptig Mode ist, raufe ich mir manchmal in die Haare, wenn ich die Leute recht höflich grüßen will. Dabei kann einem wiederum Unrecht geschehen. Die Leute können meinen, man wäre nicht beieinander.
Den Tag wo ich zum ersten Mal den Hut trug, habe ich ihn gezogen vor Jemand, bei dessen Begegnung ihn andere Leute noch fester in die Stirn drücken. Wenn man so einen neuen Hut hat, muss man ihn auch sehen lassen. Somit ging ich in den Tag dahin, wo Leute verkehrten, nämlich an dem Bahnhof. Da kam dieser Jemand, vor dem ich den Hut zog. Es war das ein gewaltiger Platzregen. Da tat mir mein armer Hut Leid. Also nahm ich ihn flugs ab, bedeckte ihn mit meinem Schneuztuch und lief, was ich konnte, heim. Ich wusste noch nicht einmal, warum denn die Leute so lachten. So habe ich meinen Hut behütet. Sonderbar! Wie man sich nach Jahrzehnten noch an solche scheinbare Wenigkeit eines ersten Hutes erinnern kann. Im Lumpensack mag er sein Ende gefunden haben. Sein Ende? –Wer weiß, was aus ihm noch geworden ist! Die Spargelmädchen sangen in meiner Dorfjugendzeit ein Lied: Aus Lumpen macht man Löschpapier... Und vieles, vieles andere denke ich mir. Somit läge es durchaus im Bereiche der Möglichkeit, dass, wenn viele Umstände günstig zusammengewirkt hätten, aus dem alten Hute das Papier könnte geworden sein, auf welches ich jetzt die Hutbetrachtung niederschreibe.
-Richtig - jetzt sehe ich ihn vor mir in seiner einstigen Gestalt, sehe, wie er mich höhnisch angrinst, der in anderer Wesensart auferstandene, unsterbliche, alte Hut – und ich schreibe darauf - schwarz auf schwarz - und au - ein Klecks! - Also hat er immer noch dieselben Finessen wie ehemals - und beinahe kommt’s mir vor, ich hätte sie auch noch. Kann also nicht heraus, der alte verknüllte Bursche, aus seiner Erstlingshutnatur. Also sind wir Freunde miteinander, wie ehemals, als ich ihn mit Stolz trug und er ist einer Erinnerung wert. Ja, wie ich ihn trug, staunte Wase Annelies: „Gück ach, ha sieht üs wie än Borscht!“ Hm, wozu solcher Ansicht widersprechen, zumal sie Recht hat. Einige Zeit später bekam ich denn auch den guten „Schwarzen“ mit Samtkragen. Der hat auch seine Geschichte. Tante Guste, die gleich dem Onkel Vinzenz Geschmack hatte in solchen Sachen, wurde mit der Anschaffung betraut.
Also gingen Tante Guste und ich in die Stadt und besahen erst alle in den Schaufenstern ausgestellten „Überschmisse.“ Tante Guste hatte, wie sich das schickte, den Eichsfelder Mantel um. Endlich war sie schlüssig, mit mir ein Geschäft zu betreten. Ein junger Mann mit geschniegelten Haar fragte, währendem er sich fortgesetzt die Handflächen rieb, nach unserem Begehr. „Ver an hie was ans Lieb“ sagte Tante Guste. Da trug er Berge von Ulstern herbei und sagte fortwährend: „Bitte recht sehr - bitte recht sehr.“ Tante Guste nahm einen solchen Ulster zur Hand und prüfte mit kritischem Blick Qualität und Machart. Da zupfte ich sie am Mantel und wisperte ihr zu: „Tante Guste, sö was nit. - Ich wall daach än schwarzen mät äm Samtkrainchen.“ „Wie thüer (teuer) kimmt dann sö än Ding hie?“ forschte Tante Guste. „Sechzig Mark bitte - Fünfundsechszig Mark bitte - Siebzig Mark bitte.“ Entrüstet blickte Tante Guste auf: „Daas äs je hällsch vehle Gald.“ Der junge Verkäufer war offenbar mundartlich nicht firm. Offenbar war er der Meinung, die Sachen seien uns zu billig. Tante Guste hatte jedoch von Mutter die Instruktion: „An die Märker zwanzig - fünfundzwanzig magst d’ anwenden.“ Das konnte nun allerdings der flotte Verkäufer nicht wissen.
„Bitte sehr - bitte sehr“ sagte er, indem er sich wieder die Hände rieb, ähnlich, wie wenn wir Dorfjungen aus Kourage zu einem Rauf zurechtrieben. „Bitte sehr! Sie können auch selbstredend bessere Sachen haben.“ Dann hüpfte er fort in ein Nebengelass, wo allenfalls diese besseren Sachen lagerten. Da zupfte ich Tante Gusten wieder an und raunte ihr zu:
„Alloh - jetzt furt!“ Tante Guste musste begriffen haben, dass schnelles Verduften das Beste wäre und gemeinsam hasteten wir dem Ausgange zu. Rechts und links des Ausganges lag je ein Schaufenster. Die waren von innen, gleich der Tür mit Flügelladen, die bis auf den Fußboden reichten, geschlossen. Sie sahen Türen täuschend ähnlich. Tante Guste vergriff sich und stob, statt zur Tür hinaus, in ein Schaufenster. Es dürfte dies das erste Mal und letzte Mal gewesen sein, dass also auf diese Weise ein Eichsfelder Mantel im Schaufenster eines Modehauses ausgestellt wurde. Übrigens sah Tante Guste ihre Verwirrung alsogleich ein und wir kamen dennoch rechtzeitig ins Freie und um die nächste Straßenecke.
Da verpusteten wir uns ein wenig und Tante Guste fragte mich: „Galt, sö än Ding hast dü daach äh nit ahngetonn?“ „Nä, Tante Guste, un wann de mich tötgeschleun hattet“ gab ich zurück. „Alloh witter!“ bedeutete mir nun Tante Guste. Wir kamen zunächst in eine Straße, wo weniger Geschäfte waren. Im Rahmen eines Einganges jedoch baumelte ein schöner Ulster, der sofort Tante Gustes Aufmerksamkeit erregte. Eine dralle Dirn stand dabei und machte sich an dem Ulster zu schaffen.
„Wie thüer kimmt dann daas Ding?“ fragte Tante Guste, ehe ich es hindern konnte. Das Mädchen sah uns erst verständnislos an, dann aber kam ihm die Erleuchtung. „Der - der gehört dem Herrn Doktor. Er hat ihn erst vierzehn Tage und wird ihn nicht verkaufen wollen. -Ja - die Herrn - gestern im Klub. Da muss ich das verklubte Ding wieder aufschniegeln“, lachte es uns an. Wir verstanden. – Aus Privathand suchten wir nichts. Also gingen wir weiter und wunderten uns über die Ulsterpreise, bis Tante Guste vor einem Garderobengeschäfte wieder stehen blieb und meinte: „Do wun me hie nachmol ringücke“. Der Inhaber hatte richtig mehr Verständnis für unseren Geschmack. Wir erstanden um das „Alleräußerste“ von 25 Mark einen „Schwarzen mit Samtkragen.“ Der Händler bot mir, „denn jungen Herrn“, noch eine Zigarre an, die ich selbstredend, „um zu imponieren“ annahm. Liebenswürdigerweise setzte er sie mir auch gleich in Brand und ich rauchte wie ein Schlot. Als wir aber draußen waren, ängstigte sich Tante Guste: „Junge, wärd dich dann äh nit schlaicht?“ Aber mir blieb wohl.
Die Rauchübungen mit „Teufelszwirn“ waren doch nicht vergebens gewesen. Den Winter über wurde Vater krank und da das Übel längere Zeit anhielt, sorgte er sich um seine Außenstände bei der Kundschaft. „War wäiß, wenn ich’s Raff wedder uffhucke“, sagte er oft - „un ‘s Gald hängt ungern Lieten“… So erbot ich mich, die Außenstände einzukassieren. „Ja, wenn ich dich dazu brauchen könnt“, meinte Vater zweifelnd.
„Warum denn nit“ – sagte Mutter – „und reisen kann er - er hat ja doch was ans Leib.“ Das war auf den „Schwarzen mit Samtkragen“ gemünzt. Also wurde die Sache arrangiert und ich ging ans Bähnle. Wie ich im Zügle sitze, kommt der Schaffner herein: „Bitte mein Herr, die Fahrkarte.“ – Aha – dem hat der „Schwarze“ imponiert, denk ich und geb ihm die Pappe. Verschandelt sie der durch ein Loch. Erst beunruhigt mich das, aber dann seh’ ich, dass er allen Leuten die Pappe so verschandelt. Das beruhigt mich wieder… Endlich bin ich da, wo Vaters Kundschaft wohnt. Ich nehme mein Notizbüchlein zur Hand und forsche gewichtig nach dem und dem. „Hier gleich rechts, das Eckhäufel“, bescheidet mich einer. Dem steure ich zu, ab und zu einen Blick ins Büchel werfend. Ich klopfe an die Stubentür. - „Herein.“ Ein Mann liegt stöhnend auf der Bettstatt. Ich richte einen schönen Gruß aus von dem eichsfelder Vetter N., dessen Sohn ich wär – und wegen dem und dem wär’ ich da.
„Gar – so ein feiner Herr“ staunen die Leute. – Der Mann steht auf, ist munter und gesund, geht an die Kommode und zahlt das Geld bei Heller und Pfennig. „Ich spiele krank“, erklärt er mir sodann, „ich sah „Ihnen“ aufs Haus zukommen mit dem Büchel und dachte gar, ‘s wär’ der Kontrolleur von der Kassen. Dabei äugte er viel sagend nach dem „Schwarzen“. – Ja, Kleider machen Leute! Wie ich ging, gaben sie mir Grüße auf und von den Hosen könnten sie noch welche gebrauchen und so Wolle - und so Schnupptücher. Nun, Vater hat nach geraumer Zeit das Reff wieder aufgehuckt und wird ihnen das alles besorgt haben. An die drei Tage hatte ich zu tun und überall respektierten die Leute den „guten Schwarzen“ und somit kam das Geld alle ein.
Wer weiß, ob ich das ohne den „Schwarzen“, der einen Dorfjungen schnell zu einem Leut’ gemacht hatte, erreicht hätte. Also schafft euch alle so einen an, einen „Schwarzen mit Samtkragen.“ Ihr kriegt noch eine feine Zigarre dazu, von der euch nicht schlecht wird. Nur möglich, dass ihr um 25 Mark keinen mehr bekommt, denn wir hatten dazumal noch die gute, alte Zeit. Aber das ist bis auf den heutigen Tag so geblieben: Kleider machen Leute!