Kinder aus dem entfernten Tschernobyl auf dem Eichsfeld (1992)
Vom Verein „Hilfe für Kinder aus Tschernobyl“ des Kreises Mühlhausen wurden für vier Wochen 27 Kinder und 3 Betreuer aus der Region Tschernobyl eingeladen.
Die ersten 14 Tage wurden gemeinsam im Schullandheim „Waldschlösschen“ verbracht. Deutsche und russische Betreuer sorgten sich hier gemeinsam dieser Kinder. Viele Betriebe, Einrichtungen und Institutionen trugen unentgeltlich für das leibliche und seelische Wohl dieser Kinder bei.
Die 2. Hälfte ihres Aufenthaltes in Deutschland verbringen die Kinder und Betreuer bei deutschen Gasteltern. Für 27 Kinder hatten fast 50 Familien freiwillig und spontan ihre Gastgeberbereitschaft erklärt, so dass im Herbst dieses Jahres nochmals ein Durchgang in den Kreis Mühlhausen kommen kann.
Am Samstag, dem 13. Juni war es nun so weit. 27 Gastgeber-Familien holten sich nach einem gemeinsamen Nachmittag bei ungezwungenem Spiel, Kaffee und Kuchen ihren Schützling im Waldschlösschen ab. Die meisten Gasteltern hatten ihre Kinder oder Enkel mitgebracht, sodass es trotz fehlender Sprachkenntnisse zu einer ersten herzlichen Begegnung kam, wo man sich kennenlernte.
Nach einigen gemeinsamen Stunden der Auflockerung wurde das umfangreiche Gepäck der kleinen Gäste verstaut und die Fahrt ging in das zeitweilige Zuhause der Kinder.
10 Kinder und 2 Erzieher kamen auch in die beiden Eichsfelddörfern Struth und Lengenfeld unterm Stein.
Sie haben die schönen Namen:
Georgy, Konstantin, Irina, Tatjana, Maria, Sascha, Michail, und drei mit dem Namen Andrey. Ihre Betreuer: Frau Tatjana Samontina, Kinderärztin, Herr Alexy Saizwew, Dolmetscher.
Erfreulich ist, dass sich ausschließlich Familien mit mehreren Kindern für diese schöne Aufgabe der Völkerverständigung – man kann es auch Nächstenliebe nennen – gemeldet haben.
Und das eine kann man schon nach einer Woche sagen: Es sind bescheidene, freundliche und aufgeschlossene Kinder, die sich trotz Sprachschwierigkeiten sehr wohl in den teilweise kinderreichen Familien fühlen. Kinder unter Kindern, das ist doch das Richtige!
Andrey und Sascha lernten beispielsweise hier das Radfahren und sind stolz, wenn sie mit dem BMX radeln können. Auch bietet sich das gute Sommerwetter für den Besuch der Schwimmbäder Eigenrieden und Lengenfeld an und dort fühlen sie sich in dem nassen Element pudelwohl.
Busfahrten nach Ziegenhagen und Bad Lauterberg, der Besuch eines Reiterhofes und des Johannisfestes in Eschwege werden sich sehr in das Gedächtnis der liebenswerten kleinen Gäste einprägen.
Zum Wochenende nahm sich Bürgermeister Hans-Georg Hildebrand die Zeit und lud die Lengenfelder Gastkinder in seine Wohnung ein.
Alle Kinder erhielten von ihm persönlich Geschenke, was bei diesen wiederum große Freude hervorrief. Frau Hildebrand – Sprachlehrerin am hiesigen Gymnasium – konnte mit ihren Sprachkenntnissen vieles ins rechte Licht setzen und die Kinder sprudelten in freudiger Erregung ihre Wünsche, aber vor allem ihre Dankbarkeit heraus. Dann nahm sie der Bürgermeister noch mit ins Rathaus, wo gleich zwei der spitzbübischen Schelme den Sessel des Bürgermeisters einnahmen und die traditionelle Ordnungsglocke bedienten. Eine Rundfahrt durch den Ort schloss sich an und mit einem Eis in „Christas Imbissstübchen“ endeten die schönen Stunden.
Wenn man in diese glücklich strahlenden Kinderaugen sieht, die sich noch über kleine Dinge freuen können, ist man als Gastgeber reichlich belohnt.
Vielleicht versuchen Sie es im nächsten Jahr auch einmal als Gasteltern. Es wäre eine gute Geste der Völkerverständigung – und die haben wir in unserer Zeit wahrhaft bitter nötig.
Willi Tasch
(Quelle: Obereichsfeld-Bote, 3. Jahrgang, Heft 27 vom 3. Juli 1992)