Jürgen Mahrenholz: Predigt zum ökumenischen Dank-Gottesdienst der ehemaligen Bischofsteiner am 8. September 1990 in Lengenfeld unterm Stein

Sonnabend, 8. September 1990, in der röm.-kath. St.-Marien-Kirche zu Lengenfeld unterm Stein (südliches Eichsfeld), gelegen in der ehemaligen 5-km-Sperrzone, jener „innerdeutschen Grenze“.

Liebe Festgemeinde, Ihr lieben Lengenfelder und Bischofsteiner!

I.

Ihr werdet Euch gewundert haben, dass wir zur Eröffnung des Dankgottesdienstes ein Lied gesungen haben, das zu einem Friedensschluss gesungen wurde, der den 30-jährigen Krieg beendete. Von Schülern am Gymnasium Sarstedt, Kreis Hildesheim, umgedichtet, erklang es zum ersten Male am 17. Juni dieses Jahres in Bad Seebruch/Westfalen, in einer Kirche, die 1989 unser Bischofsteiner Mitschüler Dr. Willi Nebel auf seinem Grundstück, einem Kurzentrum mit Rehabilitations-Klinik, für seine Patienten errichtet hatte. Auch am 17. Juni fand daselbst ein Ökumenischer Gottesdienst statt; und wie seinerzeit jenes Lied das Ende des 30-jährigen Krieges besang, das Aufatmen des deutschen Volkes, so wurde 1990 mit diesem Choral das Ende eines 40-jährigen Kalten Krieges angezeigt, durch den die ganze Welt so häufig am Rande ihrer totalen Vernichtung stand. – Am darauffolgenden Tage, 18.6., kamen in Münster die Außenminister Genscher und Schewardnadse zusammen, und zwar in dem Gebäude, in welchem 1648 der Friede von Osnabrück und Münster unterschrieben wurde, das Ende eines grausamen Ringens besiegelnd, die Dichtung jenes gewaltigen Dank-Liedes auslösend.

Nun habe ich es hier erneut singen lassen, an einem Ort, der – wie das gesamte ehemalige 5-km-Sperrgebiet – am meisten unter dem 40-jährigen Kalten Krieg hatte leiden müssen. Und in die Wiedersehensfreude mit unserem geliebten Bischofstein mischen sich Wermutstropfen. Ich erwähne jenen Bischofsteiner Erich Holle, dessen Herz buchstäblich zerriss, als er, extra aus Kanada kommend, nach 50 Jahren wieder in Bischofstein weilte, vom Schlag der Wiedersehensfreude getroffen und niedergestreckt.

Als ich vor zwei Jahren in Wanfried im Blick auf das uns von weitem grüßende, aber nicht greifbare Bischofstein die Seligpreisung des großen Christi. Schriftstellers und Arztes Jung-Sti11ing, Jugendfreund Goethes, ansprach: „Selig sind, die Heimweh haben, denn sie sollen nach Hause kommen“, ahnte niemand von uns, dass sich dieser Spruch so bald bewahrheiten würde:

  • irdisch gesehen, was Bischofstein betrifft, und
  • ebenso im Lichte unserer ewigen Heimat und Bestimmung, die jener Bischofsteiner erfuhr, als der Herr über Leben und Tod ihn gerade hier heimholte.

Dieses Eichsfeld wurde uns zur Heimat; es hatte das Schicksal der Spaltung schon seit 1815 kennengelernt, als es zwischen den vorwiegend protestantischen Königreichen Hannover und Preußen auf dem Wiener Kongress geteilt wurde; man meinte damals, die katholische Minderheit so besser an die Kandare nehmen zu können.

Doch im Kulturkampf haben gerade die Eichsfelder – wie alle Katholiken und Sozialdemokraten als „Reichsfeinde“ diffamiert – die Glaubensfreiheit und die Gewissensfreiheit tapfer erkämpft; das Kreuz auf dem Hülfensberg zeugt von einem unerschrockenen Bischof, der preußische Kerkerhaft und Ausweisung aus Deutschland auf sich nahm. In diesem Jahrhundert waren es abermals Katholiken und Sozialdemokraten, die den Einflüsterungen der braunen Nazi-Ideologen meistens nicht erlagen und die beide – ob im Hintergründe oder im Untergründe – nunmehr vereint mit den Protestanten der roten stalinistischen Ideologie 40 Jahre lang trotzten.

Welche Wirkungen gingen von der Stille aus, von einer qualifizierten Minderheit, die ihre Kniee weder vor dem nationalistischen Kalb noch vor dem internationalistisch-leninistischen Kalb beugte, einer Minderheit, die der Diktatur der jeweiligen totalitären Partei von 1933 bis 1989 trotzte!

II.

Nun werden mir gewiss einige von Euch entgegenhalten: Gehören diese historischen Betrachtungen in einen Gottesdienst? Erhebt sich nicht die grundsätzliche Frage: Dürfen wir politische Vorgänge wie die wiedergewonnene Einheit Deutschlands zum Gegenstand religiöser Betrachtungen machen? Sind das nicht zwei völlig verschiedene Bereiche, die besser nicht miteinander vermischt werden sollten? Ich mache diese kritische Frage desto lieber zu meiner eigenen, als wir von unserem der Aufklärung verpflichteten Schulleiter RPK gelernt haben, jedwede Angelegenheit kritischst zu durchleuchten, um im Bedenken solcher Reflektion zu uns selbst zu finden:

Zunächst teile ich Euer Unbehagen; ich erkenne an, dass es nichts Schrecklicheres geben kann, als Gott den Herrn für politische Zwecke zu vereinnahmen! Alle Nationen beteten im 1. und 2. Weltkriege, wie im 30-Jährigen Kriege auch, zu einem und demselben Gott. In welche Verlegenheit brachten wir Menschen den Herrgott, der angeblich Eisen wachsen ließ, um auf andere Völker einzudreschen? Auf wessen Seite sollte er stehen? Banale Antwort: Auf der Seite der stärkeren Bataillone!? „Der Gott, der Eisen wachsen ließ, der wollte keine Knechte, drum gab er Säbel, Schwert und Spieß dem Mann in seine Rechte“, endend mit der Aufforderung: „dass er (der Mann) widerstände bis aufs Blut, bis in den Tod die Fehde.“

So blutrünstig – angeblich „patriotisch“ – wurde der deutsche Drang nach Eroberungen, lange vor Hitler, religiös untermauert. War dieser Gott eigentlich noch der Vater Jesu Christi, der die Völker versöhnende und barmherzige Gott?

Ich steigere unser grässliches Unbehagen bei solcher Verquickung von Gott und Politik, wenn ich daran denke, dass auf unseren Koppelschlössern, mit denen wir im 2. Weltkriege fremde Länder eroberten – ich war dabei von 1943 bis 1945 –, „Gott mit uns“ stand. Angesichts der Arroganz der Macht, angesichts des von uns brutal vorangetriebenen Geschichtsverlaufs nach außen wie im Inneren kann diese Inschrift nur als eine Verhohnepipelung Gottes angesehen werden: Wozu der liebe Gott nicht herhalten muss, um Schrecklichstes und Schlimmstes in seinem Namen zu decken! Unfassbar!

Insofern kann ich die Beklommenheit bei der Identifizierung von Gott und Deutschland, von weltlichem Reich mit dem Reich Gottes nur unterstreichen. Mehr noch: Wie oft hat die Kirche Jesu Botschaft verfälscht, indem sie sich mit den Realitäten arrangierte und faule Kompromisse einging –

um dies zu begreifen, brauchten wir nicht erst zu Dostojewskis Roman „Die Brüder Karamasoff“ oder zu Stefan Andres Roman „Der Reporter Gottes“ zu greifen. Jesus wäre auch heute unerwünscht!

III.

Vor diesem Hintergrunde komme ich zu der alles entscheidenden These: Beide Reiche, weltliches und geistliches, müssen unterschieden, nicht geschieden werden. Schließlich sind Christen keine Himmelskomiker, sondern Realisten. Als Beispiel für die nicht gestattete Scheidung beider Bereiche mag der Bundestagsabgeordnete Mischnik dienen. Er führte vor dem versammelten Bundestage aus, dass die Ereignisse in der DDR, die vom Herbst 1989 bis jetzt zur deutschen Einheit geführt hätten, keine Wunder seien, wie so oft behauptet. Wunder, so meinte er, seien bekanntlich übernatürliche, nicht erklärbare Phänomene und die seien in der DDR nicht erkennbar gewesen. Die Ostdeutschen, besonders in der Heldenstadt Leipzig, in Dresden, Dessau, Berlin und anderswo hätten durch ihre beispiellose Unerschrockenheit alles aus eigener Kraft bewerkstelligt.

Na, dann wollen wir das Geschehen mal von der anderen Seite aus betrachten: Angenommen, Erich Honecker hätte den angeblich oder tatsächlich unterschriebenen Schießbefehl ausführen lassen und es hätte massenhaft Tote gegeben wie ein Jahr zuvor in China auf dem Platz des Himmlischen Friedens oder wie in Rumänien: Todsicher wäre unser Gott auf die Anklagebank gesetzt worden, auch von Herrn Mischnik: „Wie kann Gott das zulassen?“ Oder: „Na, hab‘ ich‘s nicht schon immer gesagt? Es gibt keinen Gott!“

Was ist das für ein primitiver Gottesbegriff, den wir Menschen uns zurechtgebastelt haben: Wenn‘s schief geht, ist Gott schuld; geht‘s gut, waren‘s natürlich nur wir Menschen, die das vollbracht haben. Was sind wir doch für erbärmliche Wichte, die bei allem Misslungenen an Gott zweifeln oder die murren, das Gelungene hingegen begackern wie ein Huhn, das stolz sein gelegtes Ei begackern muss.

Vor fast 30 Jahren, 1962, drohte die Welt durch die Kuba-Krise in einen 3. Weltkrieg hineinzuschlittern. Der Sowjet-Premierminister Nikita Chruschtschow hatte Raketenstützpunkte in Kuba installiert, von denen aus er die USA bedrohte. Präsident Kennedy bot ihm schließlich die Stirn. Die ganze Welt rechnete jeden Augenblick mit dem Ausbruch eines Atomkrieges, überall, in allen fünf Kontinenten, fanden Bittgottesdienste um die Erhaltung des Friedens statt. So auch in meiner früheren Gemeinde bei Petershagen/Minden. Die Kirche war brechend voll, zum ersten und einzigen Male in einem Gottesdienst, die Männer in der Überzahl. Die Vorstellung, dass ein 3. Weltkrieg unvermeidlich schien, war ihnen offensichtlich unter die Haut gegangen; viele waren Kriegsteilnehmer gewesen.

Der Lehrer des Ortes hatte für einen kleinen Moment das Gotteshaus verlassen und hörte auf dem Kirchplatz die frohe Kunde aus dem Radio des Küsters, das Moskau nachgegeben hatte. Er stürzte in die Kirche und verkündete: „Herr Pastor, wir können aufhören mit Beten, es hat bereits genützt.“

Aufhören? Kein Dankgebet für die gnädige Errettung aus jener fürchterlichsten Bedrohung der Welt, die es bislang gegeben hat?

Dreierlei habe ich aus jener Begebenheit gelernt:

  1. Wer betet, nimmt teil an der Weltregierung Gottes.
  1. Gott erhört zwar jedes unserer Gebete, er erfüllt indes nicht jeden Wunsch, sonst machten wir ihn zum Sklaven unserer Wünsche, zu einem Automaten: Geld rein, ein Zug zum Rausziehen, schon purzelt die Erfüllung in die Schale. Gräulich, wer solche Ansichten über einen Götzen, über einen Zauberer mit sich herumschleppt und diese Ansicht noch als „Gott“ ausgeben mag.
  1. Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist. Hätte vor einem Jahr jemand diese Entwicklung in Deutschland prophezeit, er wäre als Utopist verlacht worden, als unrealistisch abgemeldet gewesen. Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist! Und wer dankt, denkt weiter!

Wer sagt denn eigentlich, dass die allwöchentlichen Friedensgebete in der DDR nicht dazu beigetragen haben, dass der Geist Gottes die Furchtsamkeit der Ostdeutschen besiegte und diesen, so auch den Eichsfeldern, eine Unerschrockenheit schenkte, die eben nicht von dieser Welt ist? Wer sagt denn, dass nicht Gottes Geist den Geist eines Chruschtschow erleuchtet hat oder die Herzen von Gorbatschow und von Reagan bzw. Bush. Und könnte uns das nicht ermutigen, für Hirn und Herz derjenigen zu beten, die Verantwortung für die Golfregion tragen, bes. morgen, wenn in Helsinki Bush und Gorbatschow Zusammentreffen?

Befreien wir doch Gott aus den Fesseln, die wir ihm anzulegen uns erdreisten!

Leidet er nicht daran, dass wir ihn zu einem gläsernen Gott machen, der alle Geheimnisse gefälligst preiszugeben hat? Leidet er nicht darunter, dass wir ihn so klein, so schulmeisterlich, so moralisch sehen? Da glauben Christen an den allmächtigen Gott und leugnen dreist, dass Gott den Verstand von Atheisten erleuchten könnte! Wer sagt denn eigentlich, dass ein Gebet nicht erhört wird, das da lautet:

„Du, Herr, hast selbst in Händen die ganze weite Welt, kannst Menschenherzen wenden, wie es dir wohlgefällt. So gib doch deine Gnad zu Fried- und Liebesbanden, verknüpf in allen Landen, was sich getrennet hat.“ (Paul Gerhardt in einem Pfingstlied)

Ist das nicht das eigentliche Wunder, unfassbar, unerklärbar, überdimensional, nämlich die Wende der Herzen, das Verknüpfen von Trennendem? Ist das nicht tiefgründiger als die Gottesvorstellung von einem „Haut den Lukas“, einem ‚deus ex machina‘ (Gott aus der Maschine)?

IV.

Selbstverständlich haben auch wir Bewusstsein und Willen geschenkt bekommen, um diese Erleuchtung in die Tapferkeit des Herzens umzusetzen. Die Natur kennt nur die Gesetzmäßigkeit und das Tier nur die Notwendigkeit, so und nicht anders zu leben. Wir aber sind zusätzlich mit Bewusstsein und Willen ausgestattet, vor allem mit Denken, mit Vernunft. Ein großer Philosoph unseres Jahrhunderts hat das auf die einprägsame Formel gebracht: „Zwei Vorgänge könnten diese Welt noch retten: Das Denken und das Beten; doch leider verhält es sich in der Regel so, dass die Beter nicht denken, wohingegen die Denker nicht beten.“ (Graham Greene)

Liebe Lengenfelder und Bischofsteiner: Dies darf für uns Christen keine Alternative sein, denn nicht nur eine zu Gott betende, sondern eine ebenso mit ihm denkende Gesellschaft und Gemeinde wird die riesigen Probleme lösen können, vor die sich die Menschheit gestellt sieht. "Die Hände, die zum Beten ruhen, die macht er stark zur Tat, und was der Beter Hände tun, geschieht nach seinem Rat." Beten und Denken! Kommt nicht das Wort „Danken“ von „Sich-Ge-danken-machen?“ Warum sollten wir als denkende Personen heute nicht Gott dankbar sein für die wiedergewonnene Einheit Deutschlands? Warum sollten wir uns nicht Gedanken machen und die Hände falten für all diejenigen in der DDR, die vom 1. Juli an die Umstellung auf die Marktwirtschaft erst verkraften und verdauen müssen mit all den für sie damit verbundenen Risiken und Chancen, mit Katastrophen für die einen und mit Aufschwüngen für die anderen?

In westdeutschen Zeitungen habe ich gelesen, wie sich gerade die Eichsfelder Landwirte um die Ergebnisse harter Arbeit und zähen Kampfes gegen die SED-Diktatur durch das neue System im Stich gelassen und vernachlässigt fühlen. Auch schäme ich mich mit unserem Staatsoberhaupt Richard von Weizsäcker – bald auch Euer Staatsoberhaupt – über so manche „Pampigkeit und Ruppigkeit“ – so sein Ausdruck –, etwa die: „Jetzt müssen wir Westdeutschen die Karre aus eurem DDR-Dreck ziehen.“ Welch ein Dünkel, welch ein Hochmut! Das Gehabe der vermeintlichen Sieger nagt am Selbstbewusstsein der Noch-DDR-Bürger. Dabei haben wir im Westen um Demokratie nicht zu kämpfen brauchen, wie Ihr es jahrelang tatet! Uns wurde die freiheitliche Demokratie von den Westmächten in den Schoß gelegt. Werdet Ihr nicht um die Früchte Eures ritterlichen Kampfes vielfach betrogen?

Auf derartige Fragen nach Existenz und Perspektivlosigkeit im Leben dieses Teils unseres Vaterlandes und speziell der Lengenfelder/Eichsfelder Landwirte weiß ich keine rational einsehbare Antwort, nur die eine uns verheißende:

„Was du (Gott) auch schickst, ob Glück, ob Angst, zeigt stets, wie du nach uns verlangst.“

Reichte das? Wäre das genug?

Hilft nicht Gott oft „nur“ (in Anführungsstriche gesetzt!), dass er trotz aller Widrigkeiten, Rückschläge und Unsicherheiten uns dennoch zuversichtlich leben lässt? Zuversichtlich schon darum, weil er selbst in Jesus Christus am Kreuz die bitterste Niederlage hat einstecken müssen und sich daher mit uns solidarisiert, mit den auf sich selbst Zurückgeworfenen, mit den Perspektivlosen, Kranken, Einsamen und Gebrechlichen? Vollzieht er nicht die Einheit mit uns auf der Grundlage unserer Schuld und Schwäche, unserer Bitterkeit und Angst?

Bedenken wir, dass jeder Sonntag ein Tag der Einheit Gottes mit uns ist; er hat solche Einheit mit seinem Blut am Kreuz besiegelt. Gott und Mensch können seit Jesus Christus nicht mehr gespalten werden. Dieses „Gott mit uns“ wird nicht durch Feldzüge und Koppelschlösser oder einen Hurra-Patriotismus hergestellt, sondern durch eine Gemeinschaft, die sich in die tiefsten Tiefen, in unsere Abgründe und Finsternisse hinein erstreckt und da bei uns aushält. So ist der Eisenbahn-Viadukt von Lengenfeld für mich immer das „konkrete Abbild meines Gehaltenseins über meine Abgründe gewesen, die sich vor mir oft genug auftaten, und zugleich ein Symbol für Jesus Christus als den lebendigen Viadukt, der über gähnende Abgründe führt.

V.

Nun gehören wir unauflöslich zusammen, gehören seiner ewigen Nation an, deren Widerschein uns im Sakrament des Heiligen Abendmahls, der Heiligen Eucharistie, trifft. Seit unserer Heiligen Taufe sind wir seiner großen Nation eingegliedert, dem Volke Gottes, und niemand kann uns in Freud und Leid aus seiner uns einigenden Hand reißen.

In diese unauslöschliche Dankbarkeit haben wir auch eine Person einzubeziehen, die die Bischofsteiner Flamme ausdauernd mit Öl versorgte, die mit leidenschaftlichem Engagement den Zusammenhalt unter den Bischofsteinern garantierte und bei den meisten das Bewusstsein schärfte, dass wir eine Bischofsteiner Familie geblieben sind: Wolfgang von Scharfenberg. Ohne ihn hätten wir uns hier nicht zur „familia die“ (zur Gottesfamilie) versammeln können; er schuf durch seinen Kalkhof, unmittelbar an der innerdeutschen Grenze, die äußeren Voraussetzungen für die Überwindung der Spaltung und bot den Bischofsteinern eine Heimstatt, die das unverlierbare Erbe Dr. Ripkes bewahrte. Nun braucht unsere Seele nicht mehr die Flügel auszuspannen, als flöge sie nach Haus, wie es der katholische Dichter Joseph von Eichendorff einst allgemein dichtete – vor zwei Jahren predigte ich darüber –, nun ist sie hier in der Lengenfelder Kirche und in unserem Bischofstein eingekehrt, nun halten wir Zwiesprache mit ihr.

Denn Gott der Herr stellt durch die Predigt und sein Wort sowie durch die heiligen Sakramente immer wieder die Einheit mit uns her, Sehnsucht und Wehmut stillend.

Vor diesem Hintergrunde lösen sich jene kritischen und reflektierenden Fragen an diesem Freudentage. Denn Jesus Christus ist die Antwort auf die letzte Frage nach unserer Zukunft jenseits der letzten Grenze, der des Todes. Auch sie öffnet sich für uns, so gewiss Ostern für die gequälte Menschheit geschehen ist. Amen.

In Lengenfeld aufgewachsen und in Bischofstein zur Schule gegangen, ist der römisch-katholische Pfarrer Dr. Lothar Maßberg, der für diesen ökumenischen Wortgottesdienst eine Fürbitte verfasst hatte, die einen wunderbaren großen Bogen vom Alten Testament über das Neue Testament zu den Bischofsteinern sowie zur Neuvereinigung unserer Nation spannte. Das so gehaltvolle Fürbittgebet, von Lothar im Gottesdienst vorgetragen, lautet:

Herr unser Gott, du bist in unserer Mitte als der Hirte deines Volkes. Du hast dein Volk durch die Wüste in das verheißene Land geführt. Du hast es aus der babylonischen Gefangenschaft befreit. Du hast uns erlöst durch deinen Sohn Jesus Christus und uns seinen Heiligen Geist gesandt als Helfer und Beistand. Wir danken dir dafür und tragen dir unsere Bitten vor:

  1. Lass uns im Unglück nicht mutlos und im Glück nicht übermütig werden … („Wir bitten dich, erhöre uns“)
     
  2. Stehe allen bei, die nach einem neuen Anfang suchen und zeige ihnen Weg und Ziel …
     
  3. Segne diese Landschaft, das Eichsfeld und Lengenfeld und seine Bewohner, die unser Leben ein Stück begleitet und uns geprägt und uns Heimat und Geborgenheit geschenkt haben …
     
  4. Lass in aller Welt Grenzen und Mauern fallen, die noch trennend stehen zwischen Völkern, Rassen, Nationen und Konfessionen …
     
  5. Schenke unserem Volk die innere und äußere Einheit, der Christenheit in aller Welt Freiheit und der Menschheit deinen Frieden …
     
  6. Erbarme dich unserer verstorbenen Lehrer und Mitschüler, Wohltäter und Freunde und lass sie zum ewigen Leben auferstehen …

Dir, Herr, sei Lob, Preis und Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen!

Herr unser Gott, wir haben uns in deinem Namen versammelt, um dir Dank zu sagen. Unser Herz ist voll Freude über das, was du an uns und unserem Volk und Land getan hast. Wir erkennen dich als den Herrn der Geschichte. 1000 Jahre sind vor dir wie ein Tag.

Verzeih uns, wenn wir schon mal an deiner Güte gezweifelt haben.

Jetzt wissen wir, dass du auch in unserer Zeit die Geschicke der Völker in deinen Händen hältst. Wir danken dir und bitten dich:

Lass unseren Dank gelingen und nimm ihn gnädig an.

Darum bitten wir dich durch Jesus Christus, deinen Sohn, unsern Herrn und Gott, der in der Einheit des Hl. Geistes mit dir lebt und herrscht in Ewigkeit. Amen!

Kurze Ansprache auf dem Bischofsteiner Waldfriedhof in Lengenfeld unterm Stein

Gestern erfuhr ich, dass wenige Tage vor seinem Tode Wilhelm Ripke bemerkte, nur eines bedauere er, dass niemals ein Bischofsteiner an seinem Grabe stehen werde; für so endgültig und unüberwindbar hielt er die innerdeutsche Grenze. Schon zuvor hatte er aus diesem Grunde seinen Grabsteinspruch geändert, der ursprünglich so lauten sollte:

„Alles Getrennte findet sich wieder.“

Nun steht auf seinem Stein:

„O glückliche Augen, was je ihr geseh‘n, es sei, wie es wolle, es war doch so schön!“

Ripkes Befürchtung, ihm zur Gewissheit geworden, ist nun durchkreuzt! Heute können wir Bischofsteiner, an seinem Grabe versammelt, nun doch ein wenig jubelnd ausrufen: „Alles Getrennte findet sich wieder“.

Wir gedenken seiner, seiner Ehefrau, Dr. Marseilles in Dankbarkeit. Sie waren Persönlichkeiten, die mit ihrem Wissen und ihrer Offenheit, mit ihrer Humanität und Toleranz uns geprägt haben, so dass wir unsere Lebensaufgaben bewältigen konnten. Wir können jetzt nur einstimmen in das, was Borries von Münchhausen einst niederschrieb:        

Über ein Grab hin

Je länger du dort bist,
umso mehr bist du hier,
je weiter du fort bist,
umso näher bei mir!

Du wirst mir notwendiger
als das tägliche Brot,
du wirst lebendiger,
je länger du tot.

Auch der Grabspruch unserer verehrten Frau Dr. Ripke soll hier erklingen:

„Die Rose ist ohne Warum,
sie blühet, weil sie blühet,
sie achtet nie ihrer selbst,
fragt nicht, ob man sie siehet.“

Nun wollen wir die Kränze zu ihrer aller Gedächtnis niederlegen.

Pfarrer Jürgen Mahrenholz, im September 1990
(ehemaliger Schüler des Internates Schloss Bischofstein)