Im Märzen der Bauer die Rösslein anspannt (1994)

Jährlich, wenn um „Gertruden“ oder „Josefstag“, General Winter und Miss Frühling nochmals um die Macht streiten, kommt mir ein Erlebnis aus meiner Mühlhäuser Lehrzeit in den Sinn. Es war während des Krieges. Ein wunderbarer sonniger Märztag ließ überall Frühlingsgefühle aufkommen. Die Märzenbecher und andere Frühlingsblüher kündeten den Frühling an.

Doch wie aus heiterem Himmel setzte über Nacht in den obereichsfeldischen Dörfern ein ganz gefährlicher Schneesturm ein. Am anderen frühen Morgen, als wir zur Struther Bushaltestelle gehen wollten, mussten wir durch hohe Schneewehen waten. Dort angekommen, ahnten wir schon, dass an diesem Tag der Bus nicht kommen würde. Derselbe war nämlich in Effelder stationiert und wurde von einem erfahrenen Busfahrer namens Adam Dellemann gesteuert. Aber an diesem Morgen reichten auch seine Fahrkünste nicht aus, um das Unmögliche doch noch möglich zu machen. Nachdem wir fast zwei Stunden vergeblich gewartet hatten – und uns die Knochen vor Kälte zitterten –, entschlossen sich die Wartenden, nach Hause zu gehen.

Pflichtbewusst – als Lehrling im 1. Lehrjahr – ging ich zur öffentlichen Fernsprechstelle, um mich beim Chef für mein Fernbleiben zu entschuldigen. Doch ich hatte kaum den Mund aufgemacht und etwas von Schneesturm und Schneeverwehungen in die Sprechmuschel gestottert, so hagelten vom anderen Ende der Leitung böse Vorwürfe bis hin zu einem Lügner an mein Ohr. Es wäre doch heute kein 1. April, dass ich mir einen Aprilscherz erlauben würde. Mit einem „Naja, wir reden noch über diesen Fall“ legte mein Gesprächspartner den Hörer wütend auf. Er und viele andere Mühlhäuser konnten ein Leben lang nicht begreifen, dass die Eichsfelddörfer wie Struth und Effelder fast 300 Meter höher über dem Meeresspiegel liegen.

Was auf dem Eichsfeld in dieser Nacht als Schnee vom Himmel fiel, erreichte die Mühlhäuser als Regenguss, ohne eine einzige Schneeflocke. Wutentbrannt setzte sich mein sonst sehr seriöser Chef in sein Auto, fuhr in Richtung Struth, um mich in flagranti der Lüge zu überführen. Er kam mit Müh und Not bis nach Eigenrieden – Abzweig Struther Straße. Hier fuhr er mit seinem PKW in eine hohe Schneewehe. Es ging nichts mehr, weder vor- noch rückwärts.

Ein Langholzfuhrmann aus Eigenrieden erbarmte sich und zog das steckengebliebene Gefährt mit seinem Pferdegespann heraus. Mein verehrter Chef fuhr in Richtung Mühlhausen zurück. Als ich am nächsten Tag wieder an meiner Arbeitsstelle erschien, habe ich mich nochmals persönlich entschuldigt!

Mein Chef sagte in einem sehr friedvollen und freundlichen Ton sinngemäß: „Gestern war ich zufällig oben auf dem Eichsfeld, das war ja wirklich ein fürchterliches Wetter.“

Beide waren wir froh, die Unkenntnis und das Vorurteil so diplomatisch aus der Welt geschafft zu haben.

Trotzdem war er ein guter Chef, von dem ich viel lernen konnte und dem ich auch vieles zu verdanken habe.

Ein Spruch, der auch gerade heute auf viele Lebenslagen zutrifft, fällt mir hierzu ein: „Das Vorurteil ist die Vorzimmerdame des Fehlurteils.“
 

Willi Tasch
(Quelle: „Obereichsfeld-Bote“, 1994, Nr. 9, S. 5)