Im Licht und Schatten der Nacht
Dämmerung steigt hernieder und legt ihre grauen Schleier über die Häuser und Hütten, Straßen und Gassen des Dorfes. Schon läuten Aveglocken in weichem, anheimelnden Klang und rufen ihr "Sursum corda" über das still werdende Tal. Wie Zauberklang ertönt in den Werkstätten und Fabrikräumen ein Wort: Feierabend.
Dann wird es noch einmal lebendig in den Straßen. Die den Tag über rangen in harter Arbeit eilen ihrem trauten Heim zu. Inzwischen wandern die Zeiger der Turmuhr ohne Rast weiter und in rhythmischen Schlägen kündet sie die Abendstunde. Der Glöckner geht über den Rasenweg mit klirrendem Schlüsselbund und bald dreht sich kreischend ein schwerer Schlüssel in der Türe des Gotteshauses, das wie traumgewiegt inmitten der weißlich-grau schimmernden Totenmäler liegt.
Allmählich werden die Nachtschatten dichter und die Straßen einsamer. Hier und da rattert noch eintönig ein Wagen durch die dunklen, einsamen Straßen. Dann verliert sich allmählich das einsame, eintönige Geräusch der Räder in der Ferne. Hier und da blitzen Lichter auf in den Häusern und Hütten und werfen fahle Reflexe an die dunklen Mauern der gegenüberliegenden Bauten, die wie Mumien im Grabesdunkel hocken. Irgendwoher tönt der Klang einer Ziehharmonika herüber. Leise streicht der Wind durch die alten Lindenbäume und singt melodische Traumlieder. Dazwischen geigen die geisterhaften, leisen Töne der Telegraphendrähte. Am endlosen Himmelsgezelt zieht die Sternenwache herauf. An den großen Bogenfenstern des Gotteshauses geistert das rote Tabernakellicht. In der Ferne eintöniges, traumhaftes Klappern des Mühlenrades. Murmeln, Rauschen und Wellenschlag dringt von der Mühlenschleuse herüber.
Ich stehe und lasse das eigentümlich stimmende, eintönige Lied auf mich wirken und wie verhaltenes Heimweh steigt's in mir auf. Währenddessen ist die Zeit rastlos weiter geeilt. Elf Schläge zittern herab vom Turm und die Lichtpünktlein in den Häusern verlöschen eins um das andere. Es ist stockdunkle Nacht und nun werden sie alle schlafen im Dorfe. – Alle? –
Dort vom kleinen Häuschen an der Straßenecke dringt's wie Kinderweinen herüber. Da flackert auch schon ein mattes Licht auf. Nein, es schlafen nicht alle. Dort wacht eine Mutter und wiegt einen Säugling in Schlaf. O, Mutterliebe, o Muttertreue, dein Licht strahlt in die stockdunkle Nacht. Da schreitet eine Gestalt vorbei mit leisem Schritt. Im matten Lichtschein, der von der Hütte auf die Straße fällt, sehe ich: Es ist eine barmherzige Ordensschwester. Dort drüben – da sind noch die Fenster erhellt. Gedämpfte Lichtstrahlen geistern herüber und ich weiß, dahin geht die Schwester. Ich weiß, dort liegt ein Kranker, dem die Nacht neue Leiden bringt – dahin geht die stille Schwester, wacht dort beim gedämpften Licht – trocknet Tränen und Schweiß und wacht – und betet. Ich sinne, stelle Vergleiche – Fragen, auf die mir niemand Antwort gibt, als das eigene Herz und die stockdunkle Nacht und wende mich, heimwärts zu gehen.
Da hallen noch Schritte – und am Pfarrhause ertönt die Nachtglocke. Ein Fenster wird geöffnet und mir unverständliche, abgebrochene Laute dringen herauf. Im Pfarrstübchen wird Licht gemacht. Bald ein klopfen am Fenster des Küsterhauses. -Nun weiß ich... da drüben der Kranke ... Ich warte. Wieder kreischt der Schlüssel im Schloss der Kirchentür. Lichter flackern am Hochaltar. Da treten sie heraus – der greise Pfarrer und der Küster – und der Heiland und gehen hinein in die stockdunkle Nacht. Silberhell läutet das Versehglöcklein durch die stille, dunkle Straße. Ich knie nieder im dunklen Schatten der Linden: O du Lamm Gottes ... In der blank geputzten Messinglaterne flackert das Kerzenlicht. – Dort in der Hütte brennt das Licht heller.
Die Straße ist leer – die Häuser dunkel – des Glöckleins Ton verliert sich in der einsamen Nacht... Die Menschen schlafen und träumen und ahnen nicht, dass ihr Gott, dem sie sich fromm empfohlen in den Gefahren der Nacht, an ihrer Schlafstatt vorüberzieht, zur ärmlichen Hütte eilt, einen Schwerkranken zu stärken. Nur hier und da öffnet sich leise ein Fenster und die dunkle Nacht nimmt ein kurzes Gebet auf.
Dort lehnt einer an dem Heckenzaun, mit tiefgezogenem Filz und in langem Mantel. Des Glöckleins Ton hat seinen Schritt gehemmt. Auch er kniet zögernd nieder. Schwach flackert ein Gnadenfünklein in ihm auf. Eine Weile steht er unschlüssig – dann geht er trotzig hinaus aus dem Dörflein und schreitet dem Walde zu. Eine Weile stehe ich noch sinnend; ich habe im verschlossenen Buche der dunklen Nacht gelesen – habe strahlendes Licht und dunkle Schatten gesehen. Nun will ich heimwärts.
Unter dem Torgange lehnt der Nachtwächter und dort, dort brennt noch ein Licht. Die Fenster liegen niedrig. Da kniet noch eine Mutter und betet. – In welchem Anliegen? – Eine Mutter hat viele – viele Anliegen! Da hallt vom Walde her ein Schuss – dann noch einer... und hier betet eine Mutter. Ich sinne: Steht das nicht im Zusammenhange – da drüben vielleicht ein Wilderer – und hier die betende Mutter?
Dann gehe ich heimwärts und lege mich zur Ruhe; aber der Schlaf will nicht kommen. Wieder und wieder höre ich die rhythmischen, zitternden Schläge der Turmuhr. Allmählich zeigen sich schwache Morgendämmer im Osten. – Der Sonne Siegeszug beginnt. Ich erhebe mich von meinem ruhelosen Lager. Dort über dem Friedhof auf der Bahnlinie geistert ein Licht. Der Bahnwärter wird die Strecke abgehen. – Ein Fauchen dringt durch den Nebel. Zwei runde Lichtkegel glotzen und werden lange Streifen voraus. Es ist der erste Morgenzug. – Das Leben erwacht, – der Osthimmel rötet sich – verdrängt die Schatten. Wieder kreischt der Schlüssel – Metteglocken läuten den jungen Tag ein. Aus den Schornsteinen steigen Rauchschwaden. – Der Tag ist da und hat die Schatten verdrängt.