Hundert Jahre Lengenfelder Viadukt
Lengenfeld unterm Stein, im romantischen Friedatale am Fuße des Schlosses Bischofstein gelegen, ist das größte Dorf des südlichen Eichsfeldes. Wenn man den Ortsnamen hört, denkt man zugleich an den Viadukt, der in einer Höhe von 28,50 m und einer Länge von 260 m das Friedatal überspannt. Seit fast hundert Jahren gehört der Viadukt zum Dorfbild Lengenfelds. Daher erscheint es angebracht, sich einmal mit dem Entstehen dieser Talbrücke zu beschäftigen.
Das mitteldeutsche Eisenbahnnetz war vor dem Kriege 1870/71 noch sehr weitmaschig und behinderte so den Aufmarsch der preußischen Truppen. Nach dem siegreichen Kriege erkannte man in der mitteldeutschen Eisenbahnplanung, dass eine direkte Verbindung in südwestlicher Richtung aus strategischen Erwägungen notwendig sei. Daher entschloss man sich, die Strecke Leinefelde-Eschwege, auch „Kanonenbahn“ genannt, zu bauen. Der Bau schritt wegen des felsigen und hügeligen Geländes nur langsam voran, denn es mussten viele Bergeinschnitte gemacht und mehrere Brücken und Tunnel gebaut werden. Ein schwieriges Problem war die Trassenführung über das Friedatal in westlicher Richtung nach Eschwege. Nach langem Planen entschied sich die Bauleitung, das Friedatal an der schmälsten Stelle, die sich in Lengenfeld anbot, zu überbrücken und einen Viadukt zu bauen.
Im Jahre 1875 wurde mit dem Unterbau, den Fundamenten, den sieben Pfeilern und den beiden Brückenköpfen begonnen. Unternehmer mit vielen ausländischen Arbeitern, die man in Baracken beim Bischofstein unterbrachte, waren eingetroffen. Auch einheimische Arbeiter, die sonst ihren Verdienst in der Fremde suchten, fanden Beschäftigung. Im Bereiche des Baugeländes mussten 11 Wohnhäuser mit den Wirtschaftsgebäuden abgebrochen werden. Die Betroffenen waren: Joseph Fick, Johannes Simon, Christoph Steinwachs, Johannes Fischer, Anton Grundmann, Georg Richwien, Georg Morgenthal, Martin Morgenthal, Christoph Hesse und Johannes Rodekirch. Das Steinwachssche Haus, ein stattliches Fachwerkhaus, wurde von der Gemeinde käuflich erworben und ist im Mitteldorfe vor dem Gemeindebackhaus, als zweite Gemeindeschenke, im Volksmunde das „Backs“ genannt, wieder erstanden.
Für die sieben Pfeiler und für die beiden Brückenköpfe, die den Oberbau tragen sollten, mussten tiefe Baugruben für die Fundamente dieser steinernen Riesen ausgehoben werden. Moderne Baumaschinen, wie sie heutzutage gebräuchlich sind, kannte man damals noch nicht. Alles musste noch durch Menschenkraft mit Hacke und Schippe geschafft werden. Zum Ausfüllen der Baugruben der Fundamente wurde sehr viel Steinmaterial benötigt.
Zum Aufmauern der Pfeiler, die am Fuße einen Umfang von 18 Metern haben und sich nach oben verjüngen, verwandte man Muschelkalksteine aus den Steinbrüchen von Struth und Eigenrieden, die sich wegen ihrer Härte als besonders brauchbar erwiesen. Andere Steine wurden bei Marth und Arenshausen gebrochen und rollten ab Arenshausen mit der Bahn nach Niederhone, jetzt Eschwege-West genannt.
Die einzigen Transportmittel jener Zeit waren noch die Pferdefuhrwerke. Sie brachten das gesamte Baumaterial aus den Steinbrüchen und von den Bahnhöfen zur Baustelle.
Das Fuhrgeschäft erreichte beim Bahnbau für Lengenfeld und für die Nachbardörfer seine Blütezeit, da es den Bauern hohen Verdienst einbrachte. Um die damalige Konjunktur des Fuhrgeschäftes voll auszunutzen, kauften manche Bauern ein drittes, andere ein zweites Pferd hinzu. Für die Feldarbeiten verblieb nur wenig Zeit, da das Fuhrgeschäft dem Ackerbau vorging.
Auf den Pfeilern ruht der Oberbau, das Tragwerk für die Fahrbahn. Es sind die Bogen, die die Eigen- und Verkehrslast tragen. Wie man das Tragwerk zwischen den Pfeilern ausbaute, zeigt die Photokopie die von einem Originalbilde aufgenommen wurde. Das eine Ende eines jeden Bogens ist befestigt, während das andere auf einer Rolle ruht, um auf die Temperaturschwankungen zu reagieren. Das Material zum Oberbau wurde in den Eisenwerken des Ruhrgebietes hergestellt und bis nach Niederhone mit der Bahn befördert. Die Lieferfirma hatte eine fünfzigjährige Garantie zugebilligt, die nun schon seit mehreren Jahrzehnten erloschen ist.
In den ersten Apriltagen 1945 traf ein Pionierkommando in Lengenfeld ein, das beauftragt war, den Viadukt zu sprengen. Dem Verhandlungsgeschick des damaligen Bürgermeisters Franz Müller ist es zu verdanken, dass die Brücke erhalten blieb. So blieb das Dorf von unübersehbaren Schäden verschont.
Nach Verlautbarungen aus der DDR soll die Bahnstrecke Geismar-Dingelstädt stillgelegt werden, dann ist der Lengenfelder Viadukt nur noch ein stummer Zeuge geschichtlicher Vergangenheit.
Georg Leister
(Quelle: Eichsfelder Heimatstimmen, Nr. 1 - Januar 1975)