Hoch oben auf der Klosterschranne
Wenn der heimatverbundene Wandersmann die herrliche Waldstraße im verborgenen Friedatal aus der Richtung Lengenfeld unterm Stein her benutzt, erblickt er zur rechten Hand der Landstraße eine Felsmasse in Form eines stumpfen Dreiecks. Das ist der Schrannefelsen oder nach dem gegenüberliegenden Kloster Zella auch „Klosterschranne“ genannt. Auffällig hebt sich das gelbe Felsmassiv von dem umrahmenden Hochwald ab.
Wir haben es hier mit einem der schönsten und seltensten Gebilde innerhalb der Südeichsfelder Muschelkalklandschaft zu tun. Auf einem guten, befahrbaren Waldweg erreicht man bald die Felspartie bis unmittelbar an ihrem Fuß. Ausgedehnte Geröllhalden und noch einzelne senkrecht stehende Felspartien bestätigen, dass es sich hierbei um einen Bergsturz handelt, wie wir ihn im Gebiet des Unteren Muschelkalkes in Thüringen und Hessen recht häufig vorfinden.
Unter den Schichten des Muschelkalkes liegt eine tonig-mergelige Schicht in roter Farbe, welche man „Röt“ nennt. Diese Gesteinsart gehört bereits zum Buntsandstein. Während der Muschelkalk wasserdurchlässig ist, lässt diese rote Schicht keine Durchsickerung von Niederschlägen zu. Da sich das Wasser an der Grenze zwischen Röt und Muschelkalk staut, werden die Schichten weich und schlüpfrig. Die Mergelschichten des Röt verwittern leichter als die Schichten des Muschelkalkes. Es entstehen so oftmals Hohlkehlen unter dem Kalk, die Felspartien brechen ab, zersplittern in senkrechte Wände, und diese gleiten nun von Zeit zu Zeit auf den durchfeuchteten, schlüpfrigen Rötunterlagen ab, besonders dann, wenn die Schichten, wie an der Schranne, etwas nach vorn geneigt sind.
Stellt man sich diesen Vorgang nun großflächiger vor, so kann man ermessen, wie gewaltig der Abbröckelungs-Prozess gewesen sein muss, den der Schrannefelsen durchgemacht hat. Wir haben keinen Anhaltspunkt dafür, wann der Bergsturz an der Klosterschranne erfolgt ist. Der Sturz an der benachbarten Plesse soll 1640 erfolgt sein.
Auf dem Gebiet der Flora bieten sich dem Auge an der Klosterschranne wahre Raritäten. Nach Angaben des Faulunger Försters stehen im Gebiet der Schranne und des Faulunger Steins von 15.000 Eiben, die in Deutschland wild aufwachsen, hier noch circa 1.000 Exemplare. Eine besonders schöne Gruppe von 4 Eiben steht in tadelloser Ordnung dicht beisammen. Es kann nicht genug darauf hingewiesen werden, dass dieser Baum unter Naturschutz steht, und das Abpflücken von Zweigen strengsten untersagt ist. Schließlich wollen sich ja alle Heimatfreunde an dem immergrünen Taxus erfreuen, dem ein Alter von über 1.000 Jahre beigemessen wird.
An Geröllpflanzen sind hier noch Storchschnabelfarn, Waldrebe, Blaugras, Felsenbirne, Steinmispel, Laserkraut, Bibernelle und einige Orchideenarten zu finden. Aber noch viele Wunder der Flora wird das Auge des Botanikers hier feststellen.
Nun lockt es uns, einen Aufstieg auf das Plateau der Klosterschranne zu wagen. Wir wählen zum Aufstieg den Kleineren Schranneriss, den wir in lustiger Kletterpartie bald überwunden haben. Nun stehen wir hoch oben auf der Klosterschranne und erfreuen uns des einzigartigen Fernblicks. Im Hintergrund erhebt sich die bewaldete Kuppe des Hülfensberges, und dahinter grüßen die Hessengebirge. Drüben erhebt sich die Keudelsgruppe. Durch den farbigen Wiesengrund unten schlängelt sich ein silbernes Band, die Frieda, die der Werra zueilt.
Fast in der Mitte wird die Felspartie der Schranne von einer senkrechten Schlucht, dem Großen Schranneriss oder auch „Nonnenschiere“ genannt, zerteilt. Wer in dieser Schlucht eine Kletterpartie wagen will, muss schon Mut haben. An die „Nonnenschiere“ knüpft sich eine Heimatsage. Eine Klosterfrau aus dem nahen Kloster Zella soll vor einem ihr nachstellenden Ritter geflohen sein. Mit ihrem Ross landete sie wohlbehalten im Wiesengrund, während Ritter und Pferd in den Geröllhalden zerschellten.
Das Glöckchen der altehrwürdigen Klosterkirche Zella reißt uns aus unserer Betrachtung. Wir lassen unsere Gedanken nochmals rückwärts gleiten in jene fernen Urzeiten, da der Fels unter uns weicher Meeresboden war, bis er, zu Stein geworden, vom Wasser in Berg und Tal zersägt wurde. Dann kamen die Menschen und legten Feld und Weide an, bauten menschliche Siedlungen, Burgen und Klöster. Auch sie sind wieder vergangen und zerfallen. Neue weltgeschichtliche Ereignisse sind gekommen, und andere Menschen erfreuen sich heute der Großtaten der Schöpfung. Jeder wird aber immer wieder von der Klosterschranne Ausschau halten ins grüne Land.
Vinzenz Hoppe (1956)