Heimat im Frühlingserwachen
Längst sind die Schneemassen, die lange trotzig auf den Bergen und Hängen lagerten, zu Tal gegangen. Das wilde, ungestüme Tosen der zu Wildbächen gewandelten Wasserläufe, die den Winter hinabtrugen in die Läufe der Bäche, Flüsse, hin an die Gestade der Meere, ist verklungen, und die trüben, aufgewühlten Wogen haben sich beruhigt. In den geklärten, murmelnden Wellen spiegelt scheu das Blau des Himmels, und in ihrem geheimnisvollen Gesang wiegt das Hoffnunglied vom Frühlingsauferstehen.
Und wie dieses urewige Schöpferfrühlingslied die Köpflein der an den Ufern stehenden Weiden aufhorchen lässt, sie zum Schwellen, Sprießen und Blühen bringt, so regt es auch im Menschenherz seine Mitteilsamkeit. Wie etwas lang Gesuchtes, lang Entbehrtes nimmt es die ersten Strahlen der Frühlingssonne in sich auf, und leise, leise klingen die Saiten: Nun muss sich alles, alles wenden! Da habe auch ich nicht anders gekonnt, habe die Läden geöffnet an den Fensterlein des Herzenskämmerleins. Ein wenig gerostet waren die Angeln in den langen, bangen Wintertagen; aber behänd sprangen die hellen Sonnenstrahlen hinein, und der milde Hauch der Frühlingsluft zerriss die garstigen Gewebe der Sorgenspinnen. Da erhob ich die Augen, und mein Blick ging in die Runde, hinauf an die waldigen Berge meiner Heimat, und es war, als winkten sie herab: Komm, Müder, komm herauf, wir rüsten uns zum Frühling, zum Auferstehen.
Auf gewundenem Pfade steige ich bergan. Hellgrün schimmern zu beiden Seiten die Saaten, dazwischen dunkler getönte Kleeflächen und braune, gepflügte Schollen. Armeleuteland – und wer der mageren Furche etwas abringen will, der muss sie reichlich mit Schweiß netzen. Freilich, den Hütejungen, die hier im Sommertag bis in den Herbst hinein sorglos sitzen, kann es Schätze bringen, wovon sie noch lange, lange zehren können. Herrlich ist der Ausblick ins Tal. Im Hintergrunde umsäumt der Wald das Bild wie ein breiter Rahmen. Am Waldsaume liegt das Lourdesgröttlein; daneben rieselt der Rotkehlchensborn. Wie Waldgnomen ragen geisterhaft dunkle, seltsam verwachsene Holderbüsche, und Holderhecken liefern Material zu primitiven Hirtenflöten. Das war so – vor Jahren, wo ich selbst die Flöten schnitt, und es ist noch heute so.
Ich steige höher, der Wald nimmt mich auf. Amseln fingen weich tönende, schmelzende Hochzeitslieder. Aus den Laubdecken recken sich scheu die ersten Frühlingsblütenknospen.
Nun wendet sich jäh der schmale Waldpfad, – noch einige zehn Schritte, und ich stehe auf der „Kuppe“. Vor mir jäh abfallende Felsenmassen. Ganz unten dichter Föhrenwald, in dessen Wipfeln sich flinke Eichkätzchen tummeln und trotzige Krähenhorste wetterfest und sturmsicher eingebaut sind. Ganz unten im Tal liegt mein Heimatdorf Lengenfeld. Durch saftig grüne Wiesen schlängelt sich der rauschende Friedadach, springt über rastlose Mühlenräder und murmelt halbvergessene alte Sagen. Drüben windet sich gleich einem mächtigen Reptil die Bahnlinie, führt auf mächtigem Viadukt hoch über das Dorf und verliert sich in westlicher Richtung zwischen hohen Einschnitten. Kaum zwanzig Meter entfernt von der hohen Bahnbrücke liegt einsam ein Wärterhäuschen. Es war lange, lange des alten Bahnhofsvorstehers „Nikolaus“ Dienstgebäude. Der konnte donnern, so stark wie der einfahrende Zug. Welcher bummelige Reisende hätte nicht des eifrigen Alten, der immer voll Diensteifer und Erregung war, kernige Moralpredigt empfangen: „Kommt, wenn’s Zeit ist – ich kann euch nicht helfen!“ Aber so schlimm war es denn doch nicht, und jeder bekam noch seine Fahrkarte. Wie oftmals hat sich der Alte vorgenommen, „Anzeige“ zu machen, und seine Vorsätze nicht ausgeführt. Doch das alles ist schon eine Zeit her, und das Häuslein ist leer. Nun blühen nicht mehr die Rosenhochstämme in dem kleinen, von „Vetter Nikolaus“ gepflegten Gärtelein. Die Züge donnern vorbei und machen erst auf der „Heide“, wo der neue Bahnhof heraufschaut, Halt.
Früher dachte ich wohl einmal, alle Bahnhöfe müssten so aussehen wie der von „Vetter Nikolaus“ verwaltete. Doch habe ich später gesehen, dass das nicht so ist. Der neue Bahnhof auf der „Heide“ ist auch ganz anders. Qb er schöner ist als „Vetter Nikolaus’“ Bahnhof? Ich weiß es nicht. Doch nun weiter.
Einst und jetzt! – Man meint, es wäre noch alles wie einst – und doch – wie viel hat sich verändert. Dort – zwischen den Bäumen, stand das Lehmhüttlein der Dortlieschen, war umgeben mit wildem Heckenzaune. Wenn wir aus dem „alten Graben“, den wir als Kinder öfters einer „Visitation“ unterzogen, nach allerlei zweifelhaften Schätzen, wie abgedienten Gießkannen, alten Lampen, Töpfen und bunten Tassen und Scherben, emporstiegen zum „Guckseraine“, dann waren wir bei „Dortlieschen“ – im Märchenland. Dortlieschen wusste viele schöne Märchen, und es kommt mir heute manchmal vor, als wäre die Alte selbst hineingeflochten in diese schönen Kindermärchen. Dortlieschen ist nicht mehr – der Heckenzaun ist nicht mehr. – Das Lehmhüttlein ist nicht mehr, und dahin ist das Märchenland.
Dort liegt der Friedhof. Weiße Grabkreuze schimmern herüber. Den Winter über sind einige neue Grabhügel angelegt worden. Tränen sind darauf geflossen. Doch, was tut's! Auch über dem Friedhof schwingen leise die Töne des Auferstehungsliedes. Er wird uns allen eine Heimat sein.
Ganz im Norden ragt durch die Baumwipfel der Kirchturm des Höhendorfes Effelder. Etwas westwärts sehe ich die Wipfel eines sagenumwobenen Waldgreises, der „Schlaphanjesbuche“ In nordwestlicher Richtung grüßt, die jetzige Erziehungsschule Bischofstein herüber. Im Zeitwandel hat der Bau verschiedenen Bestimmungen gedient. Ich denke zurück an die Zeit, als „Schloss-Müller“ als Gutseigentümer hier waltete. Das ist lange her. – Droben am Schlossberge ruhen auf dem kleinen Friedhofe seine Gebeine. Der Schlossberg mag noch manches andere Menschengebein bergen. Einst stand hier oben die trotzige Burg Stein. Was mag hier gewaltet haben an Schicksal und Tragik? Ganz unten im Tal der Frieda dreht sich unermüdlich das große Rad der Mühle im Hag (Hagemühle). Unten im Westen blickt das/ freundliche Dörfchen Geismar im Sonnenschein und weit dahinter im blauen Dust die „Gobert“. Und dort – dort ragt der Turm der Hülfensbergkirche aus den braun getönten Baumwipfeln. Ein überaus fesselnder Ausblick hier von der Kuppe!
– Bald kommt der Mai. Dann ist hier Leben. Die frohe Jugend singt dann Lieder von Liebe und Maientag. Maiglöcklein blühen und schwingen leise mit. Welche Lust, dann hier zu weilen, das Auge schweifen zu lassen über die im Hochzeitskleide des Frühlings prangende Heimatwelt.
So stehe ich und sinne, und in meinem Empfinden rausschen versiegte Brunnen wieder, die Quellen frohen Erinnerns an alles, was mir die traute Heimat gab. – Und die Heimat wird ein Märchenland. – Alte Käuze – alte Sitten stehen auf, Erlebnisse, nicht weltbewegend, aber gemüterfrischend: Als wir das Gröttlein bauten – der neue Kaplan. – Als drüben im Kirchhölzchen, das damals ein dunkles Tannenwäldchen war, ein „Spuk“ umging. – Wie viele sind’s der Titel der noch unbeschriebenen Blätter? – Nein, keine Blätter, es sind sprudelnde Brunnen – Erinnerung.
Bald ist Mai. Mancher nimmt dann den Wanderstab und zieht hinaus, die Frühlingswelt zu sehen, und vergisst, an den heimatlichen, rauschenden Quellen zu trinken, sucht fern, was nah ist. Und doch – was die Heimat bietet an Leben und Weben – das kann die Fremde niemals geben.
Anton vom Friedabach
(Adam Richwien)