Grabrede zu Ehren von Dr. Wilhelm Ripke (1965)
Wir stehen an der Bahre eines Mannes, der das Schicksal, die Lebensart und Lebensauffassung, eines jeden, der ihn kannte, durch seine Persönlichkeit und sein Wissen zutiefst beeinflusst hat und einen jeden aus der Fülle seiner reichen Seele beschenkte. Dieses Leben, das nun auf gehört hat zu sein, noch einmal, in seiner ganzen Tiefe und Reichhaltigkeit zu würdigen, haben wir uns hier an seinem Sarge versammelt.
1886 in Dorpat als Sohn des Lehrers und Schuldirektors Ripke und dessen baltischer Ehefrau, Anna Gräfin Igelstroem, geboren, war er stets der ostischen Mentalität verhaftet. Nach den Studienjahren in Heidelberg, die durch die Promotion zum Dr. phil. ihren Abschluss fanden, betätigte er sich als Lehrer in Moskau. Es folgten Jahre im Baltikum und in Deutschland, die ihn 1919 nach Bischofstein führten. Dort heiratete er 1925 Frau Dr. Marseille und übernahm als Direktor die Leitung der Schule. Von diesem Zeitpunkt an galt sein Wirken der Erziehung junger Menschen und ich glaube, wir können ihn getrost neben die großen Pädagogen des ausklingenden 19. und des Anfangs des 20. Jahrhunderts stellen. In einem jedoch war er ihnen vermutlich überlegen: er wurde mehr geliebt und verehrt als sie. Die Einflussnahme auf die heranwachsende Jugend hatte er, ähnlich seinem Vorgänger, unter das Leitwort gestellt:
„Erziehung ist Hilfe am werdenden Menschen“
Diese Erkenntnis war nicht nur herangereift durch das Studium Freud‘scher Lektüre oder durch die Seminare einer Frau Professor Lou Andreas-Salomé, sondern entsprang auch der naturgegebenen Intuition seines Wesens. Mit tiefem Verständnis für die Nöte und Sorgen eines jeden Heranwachsenden war er stets liebevoller Berater und väterlicher Freund all derer, die ihm in seine Obhut gegeben waren. So wie er sich 1958 in Wanfried in seiner unvergesslichen Rede anlässlich des 2. Bischofsteiner Nachkriegstreffens mit den Worten
„Ich bekenne mich zu der Jugend, die hell und wach, aufgeschlossen und ohne Illusionen, klug und klar, wissend und sehend sich, dem Leben öffnet, um von ihm zu lernen“
bekannt hat, so erlebten ihn seine ehemaligen Schüler in Bischofstein. In diesem Bischofstein, das manchem zur zweiten Heimat wurde, weniger durch die liebliche Landschaft, in der es lag, als durch den Geist der starken, immer heiteren und lebensbejahenden Persönlichkeit seines Leiters. Die große Zahl derer, die hier anwesend sind, um unserem verehrten Dr. Ripke das letzte Geleit zu geben, beweist, dass aus dem ehemaligen Erzieher- und Vorgesetzten ein Freund und Ratgeber wurde, der immer bereit war, aus dem Schatz seines Wissens und seiner Erfahrungen freudig zu geben. Trotz der tragischen Trennung der deutschen Lande hat er stets durch weltweite Korrespondenz Verbindung gehalten mit all‘ denen, die ihre Jugend in Bischofstein verbrachten. Dadurch war er nie einseitig verwurzelt im Althergebrachten, sondern der Nachkriegszeit und den Neuerungen gegenüber, die sie brachte, aufgeschlossen. –
Seinen Passionen – der Jagd und der- Landwirtschaft – musste er eigentlich schon 1939 Lebewohl sagen. Dafür aber trat das Interesse, das er von jeher der Literatur und dem Theater entgegengebracht hatte, mehr in den Vordergrund. Unvergessen ist für viele von den hier Anwesenden sein „Wallenstein“, den er unter der Regie von Frau Doktor am 20. August 1933 spielte. Unvergessen die Worte aus Hauptmanns „Michael Kramer“:
„Der Tod ist die mildeste Form des Lebens – der ewigen Liebe Meisterschaft.“
Und diesem Tod gegenüber, den er unabdinglich auf sich zukommen sah, hatte er jede Scheu verloren. Mit allen Fasern seines Seins hing er – wie Egmont – an der „süßen Gewohnheit des Lebens“. Der Tod aber war ihm so wirklich wie das Leben selbst und er wehrte sich dagegen, so zu leben, als gäbe es keinen Tod in der Welt. Doch meinte er die Reife eines Sokrates noch nicht erreicht zu haben, der, bevor er den Schierlingsbecher trank, zu seinen jungen Freunden sagte:
„Ich gehe jetzt zum Tode; Ihr geht zum Leben; wer das bessere Teil gewählt hat, weiß Gott allein.“
„Wenn ich auf mein Leben zurückblicke“, schrieb er einmal, „das mehr als ein dreiviertel Jahrhundert gedauert hat, davon mehr als die Hälfte in Bischofstein, und wenn ich daran denke, dass dieses Leben mir Gutes und Ungutes, Beglückendes und Bedrückendes, Schönes und Hässliches, Freudiges und Trauriges gebracht hat, dann muss ich doch dankbar bekennen, dass das Leuchtende, Strahlende, Herrliche alles andere überwogen hat und in der Erinnerung überdauern wird.“
Möge auch unsere Erinnerung an diesen Menschen, der uns so nahgestanden hat und der mit jedem Einzelnen von uns auf seine Weise verbunden war, das Gute, Beglückende und Schöne der gemeinsam verlebten Vergangenheit wach erhalten.
Und abschließend glaube ich im Sinne unseres lieben Verstorbenen zu sprechen, wenn ich den hier anwesenden Bischofsteinern die Worte des Apostels Paulus zurufe:
„Haltet fest zueinander!“
„Nach ewigen, ehernen großen Gesetzen müssen wir all unseres Daseins Kreise vollenden.“ (Goethe)
Das Leben UNSERES Rpk ist nun vollendet!
Helmut Bauer (1965)
(Quelle: „Bischofsteiner Rundschreiben“, Weihnachten 1995, S. 5-6)