Glückseliges neues Jahr!

Eine Neujahrsbetrachtung kann man von verschiedenen Gesichtspunkten ausgehend, anstellen. Es wären angebracht: Rück- und Ausblicke, Erwägungen der Stellungen der Verhältnisse seines eigenen Ichs zu Gott und den Mitmenschen, Nachprüfungen, was das alte Jahr an Gewinn oder Verlust brachte, Voranschläge, was das neue Jahr bringen könnte an guten und vorteilhaften und bösen nachteiligen Dingen.

Nun es geht freilich noch an, Rückblicke zu tun und daraus logische Schlüsse zu ziehen. Gewagter aber ist es mit den Ausblicken. Deshalb unterlassen auch wohl so viele Menschen diese Ausblicke in der Neujahrsnacht gänzlich. Mit gefülltem Becher begrüßen sie das neue Jahr: "Prosit Neujahr! Prosit Neujahr!" Das ist wohl heute der gängigste Neujahrsgruß. Es ist der Neujahrswunsch der Optimisten, die alles, was die Vergangenheit nicht brachte, von der Zukunft erwarten. Sie verstehen den Hang der Menschen – bei gefüllten Bechern sitzen, mit guten Freunden das Leben leben – leben, genießen – und sterben. O ja – aber ... Aber das Schicksal steht daneben, füllt Becher funkelnden Weines – und füllt Becher – herber Wermut und bitterer Galle, drückt sie in Menschenhände und stößt an: "Prosit Neujahr!" Viel Sinn kann man diesem "Prosit Neujahr!" nicht abgewinnen. Es mutet so "expressionistisch" an.

Die Neujahrswünsche unserer Alten sprechen mehr. "Glückseliges neues Jahr! Gesundheit, Frieden, Einigkeit – und einst die ewige Seligkeit – und alles was ihr Ihr Euch selber wünscht." Das klingt warmherziger wie das nüchterne "Prosit Neujahr". Aber unsertwegen. – Wir wollen uns der Zeit nicht entgegenstemmen und wollen neben den vielen anderen gebräuchlichen Formen auch das "Prosit Neujahr!" gelten lassen. Jeder mag wählen, welcher Ausdruck ihm am besten ansteht.

Alles in allem ist es ja ein schöner Brauch, dass wir uns an der Schwelle eines neuen Jahres beglückwünschen. Zuletzt kommt ja alles nur auf die Gesinnung an. Wenn in der Neujahrsnacht die Jugend ihre Wünsche durch Pistolenläufe schießt, dröhnendes Krachen unter Liebchens Fenster die Schläfer weckt, Neujahrsrummel die Straßen belebt, dann öffnen sich auch die Fenster und von Nachbar zu Nachbar gehen die Wünsche: "Glückseliges neues Jahr." Ehegatten, Eltern und Kinder, Herr und Knecht, Pfarrer und Gemeinde, Bürgermeister und Bürger, Diplomaten und Kaufleute, Lieferer und Kunden beglückwünschen am ersten Morgen des neuen Jahres.

Die Post hat ungeheuere Arbeit zu leisten, die Gratulationen zu übermitteln. Draht und Radio tragen Glückwünsche in weite Fernen. Da sollte man meinen, alles müsste sich nun harmonisch und in schönster Eintracht abwickeln unter den Menschenkindern, alle Gegensätze müssten sich überbrücken und das neue Jahr müsste ein recht "Glückseliges neues Jahr" werden. –Aber die Wirklichkeit belehrte uns schon oft eines anderen. Wir wissen: Wünsche wenden kein Geschick. Wünsche- wie viele hat ihrer die Menschheit wohl an ein neues Jahr.

Mit den oben genannten guten Dingen, die im Neujahrswünsche der Alten liegen, sind viele noch nicht zufrieden. Und doch lässt sich's gut damit auskommen. Wer sich noch etwas dazu wünscht, der sollte sich Bescheidenheit und Aufrichtigkeit wählen. Dem Bescheidenen kann das Leben keine allzu großen Enttäuschungen bringen. Er stellt keine großen Wünsche an die Zukunft. Damit feit er sich gegen Enttäuschungen, die dem Unbescheidenen nicht erspart bleiben. Mit der Aufrichtigkeit könnten wir schon bei den Neujahrswünschen anfangen. Allen Wünschen wollen wir diese beste Eigenschaft, die sie haben können, wünschen: Aufrichtigkeit. Wäre diese Tugend so sesshaft das ganze Jahr hindurch, wie es am Neujahrstage erscheint, dann brächten die Wünsche mehr Erfüllung. Der Wunsch an sich ist belanglos. Die Gesinnung gibt ihm Gehalt. Aufrichtige Gesinnung der Menschen untereinander kann viel dazu beitragen, dass ein Jahr – und das ganze Leben glücklich verlebt wird. Mancher Streit unterbliebe zwischen den Nachbarn um die Grenzfurche. Mancher Fluch käme nicht über zornesbebende Lippen und machte den sinnigen Neujahrsgruß unserer eichsfeldischen Sänger zunichte: "Gelobt sei Jesus Christus"...

Und da ich nun gerade auf dieses Neujahrssingen unserer Schuljugend zu sprechen komme, – noch ein paar Worte darüber. Manche neuzeitige Reformer finden es anstößig. Ich meine: Lassen wir diese alte Heimatsitte nur fortbestehen. Es ist uns ohnedem nicht mehr viel geblieben. Manches andere dagegen ist übernommen, was ungleich anstößiger ist, wenn es auch "moderner" aussieht. –Doch zur Sache. Wie viele Fehden mag, Gott sei's gesagt, auch das neue Jahr bringen zwischen Predigern und Gemeinden, Bürgermeistern und Bürgern, Herrschern und Volk, Arbeitgebern und Arbeitern, Untergebenen und Vorgesetzten – zwischen Gott und Menschen? Mögen die starken Waffen wahrer Gottes- und Nächstenliebe der Zwietracht Ruhe gebieten und uns allen werden: Ein glückseliges Jahr!