Geschichten, die man sich in Lengenfeld unterm Stein erzählt

In den Nachkriegsjahren malte mein Vater die Gaststube im Bauernhaus unserer Gemeindeschänke in Lengenfeld/Stein aus. Da er sich schon immer für die Sagenwelt interessierte, malte er auch die Motive danach. Es ist auch jammerschade, dass sie in späteren Jahren verschwanden. Auf der einen Wand war eine alte Frau mit einer Brille, die so halb auf der Nase hing, abgebildet. Zu ihren Füßen saß auf einem Schemelchen ein kleiner bausbäckiger Bub. Mein Vater sagte mir, dieser kleine Junge sei er gewesen; und diese Frau die alte Frau Wallbraun. Sie hätte ihm die schönsten alten Geschichten von Lengenfeld erzählt:

1. Die Sage vom Siebenackermann

In der Nähe von der Lutterbrücke, da wo sich Geismaer Feldflur an die Lengenfelder anschließt, lagen die sieben Äcker, nicht weit davon unterhalb des Eisenbahngeländes die frühere Teufelsmühle. Nächtlichst ackerte in früheren Zeiten ein Reiter ohne Kopf mit dem Pflugschar. Zu seiner Lebzeit hatte er den armen Leuten immer eine Furche zu der anderen abgeackert. Als Strafe dafür musste er nach seinem Tode das gesamte unrecht an sich gebrachte Land wieder zurückackern. Arg erging es einmal zwei Frauen von Geismar:
Sie waren sehr früh unterwegs, es fing erst an zu dämmern. Und da sie den Spuck nicht kannten, oder auch nicht kennen wollten, begegneten sie ihm. Sie ließen vor Schreck ihre Hacken fallen und liefen um ihr Leben. Der nächtliche Reiter hinterdrein. In ihrer Not flüchteten sie in das Bahnwärterhäuschen und hielten mit aller erdenklicher Kraft die Tür zu! Mit einer Rute schlug der Siebenackersmann (Tiebelsnosenpeter genannt) gegen die Türe, doch da krähte der Hahn vom Müller und der Unhold verschwand.

2. Der Schlapphanjesmann

Dieser war ein riesengroßer Mann, der an der "Schlapphanjesbuche", die am Weg zwischen Lengenfeld und Effelder stand, begraben war. Von diesem Platz aus trieb er im Dunkeln immer noch sein Unwesen. Wehe, wenn Freier so spät auf dem Heimweg waren ! Den armen Opfern huckte er sich dann auf den Buckel und ließ sich bergauf wie bergab tragen. Er war so schwer, dass die Armen unter seiner Last fast zusammenbrachen.

3. Die Waldmännchen

Das Gegenstück zum "Schlapphanjesmann" bildete das Waldmännchen. Es war ein winziges Männlein mit einem dicken, runden Kopf, großen grauen Augen, einem grauen Hut mit einer Riesenkrempe auf dem Kopf. Es stand in einem weiten, grauen Umhang und hielt einen grauen Stock in der Hand. Hierzu möchte ich eine erlebte Geschichte einflechten: Es war in den Kriegsjahren. Meine Mutter, meine Tante, meine Cousine und ich gingen in den Wald zum Holzsammeln. Es war auf dem Geyberich in Lengenfeld/Stein. Wir verliefen uns entsetzlich, fanden auch unser Wägelchen nicht mehr.
Um uns herum wurde es neblig. Wir fanden weder Weg noch Steg. Wir Kinder fingen an zu weinen. Wenn mir da jemand gesagt hätte: Hier oben hat man im Dreißigjährigen Krieg die Schweden begraben, ich glaube, ich wäre vor Angst und Furcht vergangen. Erst nach Stunden verzog sich der Nebel und wir sahen wieder den Weg und auch unser Wägelchen. Später erzählten wir die Geschichte meinem Vater und der fragte: "Wann war denn das?" "Am zweiten Januar." Da lächelte er und sprach: "Aber, aber, wer macht denn auch so was und geht am 2. Januar, am Waldmännchentag, in den Wald? Wer da auch immer das Waldmännchen stört, dem spielt es einen Streich."

4. Der Wasseresel

Was plitschert und platschert, was klitschert und klatschert im schnellen Lauf, im Wasser hinauf? So hin und so her, so kreuz und so quer, dass jedermann tausend Ängste kriegt, auch wenn er schon im Bette liegt! –Ja, das ist der Wasseresel, er trieb im Dunkeln sein Unwesen im Wasser. Wer in seine Nähe kam, der bekam so einen rechten Segen on ihm ab! Auch der Wasseresel war auf die Wand gemalt. Und da es den Leuten mit ihm allzu bunt ward, beschlossen ein paar beherzte Männer, dem Wasseresel mit Dreschflegeln, Knüppeln und Mistgabeln zu Leibe zu rücken. An der Ständerbrücke warteten sie auf ihn. Doch der Esel nicht faul, schlug nach rechts und links und sprang wie wild im Kreise herum. Die Männer kehrten pudelnass nach Hause.