Gedanken eines früheren Internatsschülers zur Grenzöffnung und dem Wiedersehen mit Schloss Bischofstein (1990)
Liebe Bischofsteiner!
Dieses Rundschreiben steht ganz im Zeichen des Wiedersehens mit unserem Bischofstein. 42 Jahre lang seit unserem ersten Treffen in Wanfried im Jahre 1948 waren wir immer vom Kalkhof durch den Wald hinauf gestiegen zu der unseligen Grenze, die das Herz unseres Vaterlandes schmerzhaft zerschnitt, hatten die Zweige beiseitegeschoben und hinüber geschaut zu dem grauen Schloss, dem die Erinnerungen unserer schönsten und eindrucksvollsten Jugendjahre galten.
Anfangs standen hier oben hinter den 1829 aufgerichteten moosüberwachsenen Steinen mit den Einprägungen „K. H.“ (Kurfürstentum Hessen) auf der Vorder- und „K. P.“ (Königreich Preußen) auf der Rückseite ein einfacher Stacheldrahtzaun. Später entstand hier, mit deutscher Perfektion ausgebaut, eine undurchdringliche Grenzbefestigung mit 3,20 m hohem engmaschigem Gitterzaun, bewehrt mit Selbstschussanlagen und Flutlicht, dahinter tief gestaffelt ein System von Sperren, Wachtürmen, optischen und akustischen Signalanlagen, Hundelaufstrecken und Kolonnenwegen, das Ganze bewacht von Grenztruppen in Kompaniestärke. Ein Großteil des erwirtschafteten Volkseinkommens wurde für den Bau dieser „Friedensgrenze“ der Bevölkerung entzogen.
Wie oft haben wir hier gestanden und in das Eichsfelder Hügelland hinübergeschaut. Hier begann für uns das rote Riesenreich, das bis zum Stillen Ozean reichte (Wölfi: „Von Wendehausen bis Wladiwostok“), das Reich des Schweigens, in dem vielen Völkern eine Ideologie aufgezwungen wurde, die von der Mehrheit abgelehnt wurde, ein Gebiet, in dem die Freiheit des Einzelnen wenig galt und eine utopische Wirtschaftsform einen niedrigen Lebensstandard brachte. Wir glaubten nicht an die Endgültigkeit dieser Grenze, hätten aber doch noch im vorigen Herbst nicht für möglich gehalten, dass ihr Ende so nah bevorstünde.
Am 12. November 1989 brachen auch hier die Dämme, die eine alles bestimmende Staatsmacht errichtet hatte. Tausende kamen über die zunächst behelfsmäßig wieder hergestellten Grenzübergänge. Es waren bewegende Tage. Wildfremde Menschen lagen sich in den Armen. Und bald besuchten auch die Hessen ihre Verwandten und Freunde in der Sperrzone, in der die Bewohner in besonderem Maße das Eingesperrtsein empfunden hatten. Als erster Bischofsteiner gelangte Heinrich Ehrenberg zu seiner alten Schule. Er hatte den Wagen in Frieda stehen lassen müssen und sich dort ein Fahrrad geliehen. Der gute Walther Fuchs wurde von diesem Tag an von allen alten Bischofsteinern angesteuert. Mehr als hundertmal führte er die Besucher zum Schloss, das jetzt wieder für die Besichtigung geöffnet war. Seine gastfreie Frau Else meinte immer wieder: „Hätten wir doch in den 45 schweren Jahren gelegentlich solchen Besuch erlebt!“ Die meisten aber schoben das Wiedersehen mit dem Traumland ihrer Jugend bis zum großen Treffen auf.
Günther Hangen
(„Bischofsteiner Rundschreiben“, Weihnachten 1990, S. 1 – 2)