Februar 1932 - Karnevalszeit auf Bischofstein

Diesmal hatte Tante Grete mit 12 jungen Göttinger Schönheiten zum Karneval in Bischofstein ein Ballett eingeübt. Es klappte endlich wie am Schnürchen, und alles wartete voll Ungeduld auf die Reise nach Bischofstein.

Am letzten Tag meldete sich die Mutter eines der Mädchen am Telefon. Die Tochter liege mit hohem Fieber zu Bett, der Arzt habe strengste Bettruhe verordnet. Was war zu tun? Das Ballett war mit soviel Mühe einstudiert worden und sollte die große Überraschung bringen. Die Figuren verlangten die Zahl 12, Ersatz war aber so rasch nicht zu finden.

Wie immer war Tante Grete nicht um einen Ausweg verlegen. Ihr ältester Sohn Rolf, einstmals selbst Bischofsteiner wie jetzt seine beiden jüngeren Brüder Alfred (Fredi) und Horst (Häsi) musste ran. Er sträubte sich zunächst heftig, machte aber schließlich mit. Der 2ljährige erhielt eine modische blonde Perücke, ein passendes Kleid sowie einen langen Mantel von Schwester Erika, dazu Überschuhe, weil man Damenschuhe seiner Größe nicht beschaffen konnte. Einen langen Abend probte das Ballett in der neuen Besetzung, und dann ging es los.

Am Göttinger Bahnhof die erste Komplikation: Einer von Tante Gretes vielen Bekannten, ein forscher Student, der hier herumflanierte, bat sie, ihn doch der eleganten Blondine vorzustellen. Die hatte einen langen Schal um den Hals gewürgt und brachte nur ein heiseres Krächzen hervor.

Schwieriger wurde es beim Umsteigen in Leinefelde. Wie vorher festgelegt, wollte Rolf die Damentoilette benutzen. Einigen der dort vor einem Spiegel tratschenden Frauen erschien die sich unsicher umschauende »Dame« nicht ganz geheuer. Sie schrieen laut nach dem Stationsvorsteher. Rolf flüchtete in das Brennnesselgestrüpp hinter dem Güterschuppen. Gerade noch rechtzeitig erreichte er den „Eichsfeld-Expreß“.

Am Bahnhof Lengenfeld warteten die Jünglinge bereits auf die Ankunft der Schönen. Jeder versuchte sich gleich eine zu ergattern und ergriff deren Köfferchen. Der gute Didi Wittgenstein hatte sogleich die große Blondine im Auge, begrüßte sie generös und ergriff ihren großen Koffer. Er hatte dabei das Pech, Rolfs schweren Koffer, der u.a. die Hockey - Ausrüstung für die Brüder Fredi und Häsi enthielt, den weiten Weg ins Dorf und zum Schloss hinauf tragen zu müssen, von Rolf mit krächzenden Lauten getröstet. Vor ihm schwenkten die Kameraden fröhlich plaudernd die Köfferchen ihrer Favoritinnen. Der Abend kam, das Fest lief. Der Tanz der 12 Mädchen klappte wunderbar, der Beifall nahm kein Ende.

Tante Grete und auch Ripkes, die als einzige eingeweiht waren, atmeten erleichtert auf. Danach war Fete mit Tanz. Die Blondine trug ein prachtvolles Abendkleid, die Tänzer rissen sich um sie. Nur ihre Stimme war noch nicht in Ordnung und wurde kaum benutzt. Unter den Tänzern, war auch der l6-jährige Häsi Krasselt. Der pfiffige Bursche kehrte zu seinen Freunden zurück und meinte: „Ein Klasseweib! Die hat Rückenmuskeln wie ein Boxer und ist vorn ebenso hart!“.

Auf dem Höhepunkt des Abends gab es beim Tanzen eine Karambolage, zwei Paare stürzten zu Boden. Die Blondine verlor dabei die Perücke, aus ihrem Abendkleid rollten zwei Apfelsinen durch den Saal. Staunend stellte Häsi fest: „Mensch, unser Rolf!“ Die Begeisterung kannte keine Grenzen.

Irmgard Gernand, im Jahre 1989
Schülerin auf Bischofstein von 1931 - 1933