Fahrendes Volk und ambulantes Gewerbe
In den Jahren um 1900 trieb sich noch allerlei fahrendes Volk in den Landgegenden umher: Zigeuner oder Tater, eine wahre Landplage, Gaukler (Tippchenspeeler), Schirm- und Kesselflicker, Bärenführer, Stromer, dazu Handwerksburschen aller Schattierungen, vom ehrbaren wandernden Gesellen bis zum arbeitsscheuen Tippelbruder, Speckjäger und Klinkenputzer. Da war z. B. der „rote Stromer" mit branntrotem Haar und gutmütigen blauen Augen, der mit Kind und Kegel, nach einem gewissen Zeitraum, mit großer Regelmäßigkeit auf der Bildfläche erschien und in Schenk Stall „Herber“ (Herberge) nahm. Seine Frau trug den jüngsten, noch nicht tippelfähigen Sprössling im Eichsfelder Tragekorbe. Da war der Stromer David aus Falken, ein harmloser Geselle im schütteren schwarzen Vollbart, hinter dem die Kinder herriefen: „David, Katüffelvid!“ Das Heyeröder Männchen sammelte die Bettelbrocken in einem Tragekorb und war nebenbei ständig auf der Brautschau. Der alte Kramer tauchte alle acht Tage in der Gemeindeschenke auf. Er hatte die Gewohnheit, sein gefülltes Halbekännchensglas aus der Brusttasche zu ziehen, es zu schütteln und mit der ausgestreckten Rechten gegen das Licht zu halten mit dem Trinkspruch: „Der alte Gott lebt noch!" ehe er sich den Inhalt genießerisch in die Kehle goss.
Zu den fahrenden Leuten, die sich von Zeit zu Zeit regelmäßig einstellten, gehörte auch der lahme Klemens aus Kirchworbis. Als fortschrittlicher Mann hatte er seine Drehorgel auf einen Pferdewagen montiert. Sein Repertoire enthielt Gesangseinlagen, die er aus seiner Jugend als zeitgemäße Schlager im Kopfe haben mochte, die aber um 1900 der jüngeren Generation unbekannt waren. In einem dieser alten Schlager, der wohl sein Entstehen der Schlacht bei Königgrätz verdankte, hieß es: „Tralala. tralala, der Benedek macht kehrt. Tralala, tralala, der Benedek reißt aus“.
In einem Gassenhauer kam die Stelle vor: „Wenn meine Frau mich ärgern tut. dann weiß ich was ich tu. Ich steck sie in den Hafersack und bind ihn oben zu. Wenn meine Frau mich bitten tut: Ach lieber Mann mach auf! Dann nehme ich den Besenstiel und haue tüchtig drauf". Daneben kamen auch moderne Schlager zu ihrem Recht, wie: O Susanna. Zu den Schuljungen pflegte er zu sagen: „Wann ich mol wärkumme, bränge ich dee a änne nuiwe Hosen meet". – Das nächste Mal an sein Versprechen erinnert, erwiderte er: „Dee Hosen? Dee han ich in der Fülung geloßen. Dee munje ä nuiwe Hosen ha.“
Bänkelsänger brachten romantische und schaurige Ritter-, Räuber- und Verbrechergeschichten zu Gehör. Auf einer Bildrolle, die nach Art der Schulwandkarten aufgehängt wurde, waren die Hauptszenen dargestellt. Textheftchen mit den Moridogeschichten wie „Der schwarze Joseph" oder „Der Mord um Kuhstall" konnten für einen Groschen das Stück erworben werden. Nachfolgend einige Kostproben: „Hier, meine Herren, ist zu sehen, wie eine Mordtat ist geschehen im Jahre 1810.“ – „Gebt acht, ihr Junggesellen und ihr Jungfräulein zart, auf dass ihr nicht zur Höllen aus lauter Liebe fahrt!" Italiener und Balkanesen, schwarze struppige Kerle, führten Tanzbären, Affen und Kamele durch die Dörfer, während die Weiber unter Tamburinlärm die Geldstücke einsammelten. Vertreter jetzt ausgestorbener oder selten gewordener Berufe gaben sich von Zeit zu Zeit ein Stelldichein. Da kamen der Scherenschleifer, der Rußverkäufer, der seinen raren Artikel (zum Färben des Lederfettes) in langen schmalen Holzkästchen, Rußbutten, absetzte, die Kräuterfrau mit Kamillen, der Gewürzmann mit Knoblauch und Majoran aus dem Hessischen und aus der Vogtei. Im Frühjahr brachten die Krauter- und Gewürzhändler Gemüsepflanzen mit, im Frühsommer „spansche“, „Lijcht- und Mulkenkesper“. Aus dem „Hessen“ kam auch der „Tümnkarl“, der Taubenkerl mit seinem Etagenkäfig voll Tauben, den er auf dem Tragekorbe befestigt hatte. Hin und wieder ließen sich Mausefallenkerle sehen, ries;ge, verwegen ausschauende Gestalten, die aus Krain und Bosnien stammten.
Lengenfeld liegt als langgestrecktes Zeilendorf an einer alten Geleitstraße, die aus dem Hessischen ins Mühlhäusische führt. Diese Lage brachte es mit sich, dass alljährlich im Sommer oder im Herbst mehrmals Horden von Zigeunern, im Volksmunde „Tater“ genannt, erschienen. Manchmal rückten sie in Trecks von 10 bis 15 grünen Wohnwagen an. Rast- und Lagerplatz war für gewöhnlich der Siechrasen an der Hildebrandshäuser Landstraße. Kaum angelangt, ergoss sich eine Flut schlampiger Weiber und Kinder ins Dorf, um zu betteln, während die Kerle sich im Felde umsahen, was es dort an Früchten und Pferdefutter mitzunehmen gab. Zuweilen musste der Gendarm erscheinen, um die Gesellschaft, die ihre Aufenthaltsfrist überschritten hatte, in Marsch zu bringen.
Autor: F. L.
(Quelle: Lengenfelder Echo)