Erinnerungen an das Hochwasserunglück vom 11. Juli 1906 in Helmsdorf (1956)

In diesem Jahre sind am 11. Juli 50 Jahre verflossen, da mein Heimat Helmsdorf von dem verheerendsten Hochwasser dieses Jahrhunderts betroffen wurde. Wer es miterlebt hat, wird diesen Tag mit seinen Schrecken nie vergessen. Nach einem schwülen Vormittag kündigte gegen 1 Uhr nachmittags starkes Donnerrollen das Herannahen eines schweren Gewitters an. Über der Hollau, dem auf einem Höhenzug östlich von Küllstedt zwischen dem Tal der Luhne und dem Tal des Mestelbaches gelegenen Walde, türmten sich gefahrdrohende schwarze Wolkenmassen. Man weiß nicht, ob es ein Wolkenbruch war, wahrscheinlicher aber ist, dass es ein wolkenbruchartiger Regen war, der dem Luhne- und Wüsterottal diese Katastrophe brachte. Es regnete auch in Helmsdorf, aber nicht außergewöhnlich stark. Da es recht dunkel geworden war, setzte sich meine Mutter ans Fenster, um beim Strümpfestricken besser sehen zu können.

Etwa gegen 2 Uhr ertönte vorn von der Hauptstraße her ein Schreckensgeschrei. Ich riss das Fenster auf und sah sofort die Ursache dieses Schreckens. Von der Hauptstraße bog eine über einen Meter hohe schmutziggraue Wasserwand in unsere Sackgasse ein und musste bald unser Gehöft erreicht haben. Im Nu war ich in unseren überbauten Torfahrt, um beide Riegel vor die Tür zu schieben. Das Tor hielt zwar dem Wasserdruck stand, aber ich stand sofort bis unter die Arme im Wasser. Unsere Hühner, die sich vor dem Regen dorthin gesetzt hatten, flatterten ängstlich auf dem Wasser umher; ich konnte sie leicht fangen und durch das offene Küchenfenster ins Trockene werfen. Mittlerweile war das Wasser aber so gestiegen, dass ich mich beeilen musste, schnell in den Hausflur, der fünf Stufen höher lag, zu entrinnen. Es gelang meiner Mutter und mir nur mit größter Anstrengung, die Haustür zu schließen. Das Wasser stieg noch mehr und ergoss sich nun in die etwa 30 cm höher liegende Stube und den kleinen Lebensmittelladen. Es war unmöglich, so schnell alle Kästen und Behälter mit Lebensmitteln rechtzeitig in Sicherheit zu bringen.

Meinen neunjährigen Bruder hatten wir schon eine Etage höher geschickt, von wo er das Wüten der Wassermassen auf unserem Hof beobachten konnte. Er betete laut um Hilfe und berichtete, was er da unten in den Fluten schwimmen sah: Geflügel, Hunde, Ziegen, Schweine, Kisten, Handwagen, Bretter, Zäune usw. Das Wasser hatte beim Nachbarn eine Wand durchbrochen, durch welche nun eine starke Strömung die Beute der Fluten daherführte durch unseren Garten zur Wüsterott zurück. Die Bretterwand zwischen unserem und dem Nachbargehöft war natürlich zusammengestürzt. Drüben wohnte ein altes Ehepaar, das schwer krank zu Bett in der zu ebener Erde gelegenen Stube lag und von der alten Mutter gepflegt wurde. Wegen der Schwüle waren Haustür und Fenster offen; die Fluten konnten also ungehindert ins Haus eindringen und kamen zuletzt sogar durch die beiden Fenster hereingestürzt. Dadurch bildete sich im Zimmer ein Strudel, in dem die beiden Betten emporgehoben wurden. Nie hatte ich bis dahin ein solches Todesgeschrei gehört, wie das der beiden Kranken, die glaubten, jeden Augenblick in dem Wasser umzukommen. Allmählich verstummten die Hilferufe; darum bat mich meine Mutter, als das Wasser nach etwa 1½ Stunden etwas fiel, nach den beiden Kranken zu sehen. Sie lagen ganz erschöpft in ihren Betten und waren froh, Hilfe zu bekommen, die sie aus dem nassen Element befreite. Der alte Mann hat den Schrecken nicht mehr lange überlebt.

Nun konnte ich mich erst einmal nach unserem Vieh umsehen: Die zwei Kühe im Kuhstall waren glücklicherweise sehr lang angekettet und standen mit den Vorderbeinen in der Krippe, die Köpfe hoch emporgehoben; sie haben lange unter Erkältung gelitten. Eine Ziege war ertrunken, desgleichen ein Schwein; der Hund lag tot an der Kette. Am schlimmsten sah es aber in unserem Lager aus, wo Salz, Zucker, Nudeln und viele Lebensmittel in einen großen Brei verwandelt waren.

Nach dem Unglück wurde auf dem Eichsfeld gesammelt, aber was für die Geschädigten dabei abfiel, war wie ein Tropfen Wasser auf den heißen Stein. Die Regierung trug nur einen Teil der Kosten, die die Wiederherstellung der zerstörten Brücken verursachte. Die Geschädigten waren aber auf Selbsthilfe angewiesen und die Hilfe der Verwandten, die in dem nicht betroffenen höher gelegenen Teil des Dorfes wohnten.          

Autor: B. O.
(Quelle: „Eichsfelder Heimatborn“, Ausgabe vom 30.06.1956)