Eisenbahn-Romantik im Eichsfeld geht zu Ende (1992)

Wir erlebten sie noch einmal: die Eisenbahnromantik der einstigen „Kanonenbahn“, die unser Jugendparadies mit der weiten Welt verband. Im „Rundschreiben 1991“ berichteten wir von der Entstehung und dem Betrieb der Strecke Leinefelde – Eschwege und ihrem Schicksal nach dem Ende des Krieges. Die „Hessische-Niedersächsische-Allgemeine“ vom 31. 5. 1992 brachte einen schönen Bericht aus der Feder von Frank Thonicke, den wir auszugsweise wiedergeben:

„Ein Stück Eisenbahngeschichte mitten in Deutschland gehört wohl bald der Vergangenheit an. Impressionen von einer ganz und gar romantischen Strecke.

Margaretha Stude ist von Beruf Haltepunktwärterin. Dienstgrad: Hauptassistentin. So heißt das bei der Deutschen Reichsbahn. Etwas populärer ausgedrückt, ist Margaretha Stude Chefin des Bahnhofs Lengenfeld. Dass die Frau von Reisenden bestürmt wird, kann man nicht behaupten. So fünf Fahrkarten verkauft sie im Schnitt täglich, meist in Richtung Leinefelde.

‚Wer soll denn hier noch fahren‘, fragt die Reichsbahnerin, ‚es arbeitet ja kaum einer hier‘.

Seit 17 Jahren ist Margaretha Stude bei der Reichsbahn. Ihr Mann ist dabei, ihre Tochter. Eine begeisterte Reichsbahnerfamilie. Bald, so fürchtet man im Eichsfeld, wird es mit der Eisenbahnerherrlichkeit vorbei sein. Denn die Reichsbahn hat inzwischen das gesetzliche Verfahren der Streckenseillegung der Bahn zwischen Dingelstädt und Geismar eingeleitet. Der Grund: 54 Millionen Mark würde es kosten, die marode Bahnlinie zu modernisieren. Jährliche Betriebskosten: sechs Millionen. Einnahmen: 110.000,- jährlich. Ganze fünf Züge fahren täglich auf der Strecke.

Noch am 7. Oktober 1989 wurde Lengenfeld, das zeigt eine Urkunde an der Wand, von der Reichsbahn als „schönster Bahnhof“ ausgezeichnet. Und noch viel früher, da war die Welt noch richtig in Ordnung an der Eichsfeldstrecke. Eisenbahntechnisch gesehen zumindest. Denn damals strömten die FDGB-Feriengäste ins Lengenfelder Schloss Bischofstein. ‚Da hatten wir hier so viel Koffer, da kamen wir gar nicht mehr durch‘, erinnert sich Margaretha Stude. Und es fuhren die Arbeiter nach Heiligenstadt oder woanders hin.

Und heute? Arbeitslosigkeit droht für nicht wenige Reichsbahner im Eichsfeld. ‚Wo sollen denn die uns hinstecken‘, fragt Margaretha Stude. ‚Hier ist doch schon alles überbesetzt‘.

Dennoch: Beim Blick zurück ist nicht alles eitel Sonnenschein. Die Grenznähe der Bahnstrecke zum Klassenfeind brachte auch Unliebsamkeiten mit sich. Margaretha Stude: ‚Jeden Morgen stand mir eine Stunde lang ein Polizist auf den Füßen herum. Das hat mir ganz schön gestunken.‘

Heute kommen keine Polizisten, aber eben auch keine Fahrgäste. Aber es kommen Eisenbahnfans aus aller Herren Länder, auf der Jagd nach Souvenirs und Schnappschüssen. Denn eine Strecke durchs Eichsfeld ist wohl einer der schönsten Wege, den eine Lokomotive in Deutschland zurücklegen kann.“

(Quelle: „Bischofsteiner Rundschreiben“, Weihnachten 1992, S. S. 12-13)