Eine kleine Wanderung bei Raureif
Mattgelbe Sonnenstrahlen durchbrechen das düstere Gewölk des Wintermorgens. Bald leuchten in weißem Dunste und Raureif die Berge und Wälder in die winterliche Landschaft. Das bezaubernde Bild der Naturschönheit lockt zu einer Wanderung ins Freie und ich lenke meine Schritte dem nahen Bergrücken zu. Auf hartgefrorenen Feldwegen geht es an Feldern, Rainen und Triften vorüber, gegen ein mit prächtigem Raureif behangenes Feldgehölz.
Dort begegnen mir die ersten gefiederten Freunde; es ist eine Schwitte munterer Erlenzeisige, die das Geäst nach Sämereien absuchen. An unweit stehendem Hartriegel, Holunderstrauch und Ebereschenbäumen gewahre ich rotbrüstige Dompfaffen bei ihrer Nahrungssuche.
Nur noch eine geraume Zeit wird die lebensfrohe Gesellschaft hier durchhalten können; denn an den Wegrainen und Steinhalden stehen zwischen vergilbten Grashalmen noch Distel und Kletten, und vereinzelt hängen noch Früchte an Heckenrosen, Pfaffenhütchensträuchern und an Ebereschen vertrocknete Fruchtdolden.
Binnen kurzem nimmt mich der Wald auf. In Silberglitzer stehen die Fichten wie in einem feierlichen Dome, die Schwere der Eislast biegt das Gezweig abwärts. Hier tummeln sich die nimmermüden Gnomen des Rotwaldes, die bunte Schar der Kohl-, Blau- und Schwanzmeisen, Haubenmeisen, Goldhähnchen, Baumläufer und Kleiber. Und aus dem zapfentragenden Wipfel locken die Kreuzschnäbel, die nun bald zur Brut schreiten als einzige sogenannte „Winterbrüter“. Ein alter Waldhase hoppelt über den Weg, ein Eichelhäher verbräscht mich mit seinem Warnrufe – es huscht und flüchtet im Gezweige, das Spechthämmern verstummt. Eine andachtsvolle Stille ruht für Augenblicke im ganzen Walde. Ich habe das Ende des Stangenholzes erreicht und befinde mich auf der Höhe eines Bergfeldes. Wie oft bin ich hier oben gewesen, und immer wieder entzückt mich die schöne Fernsicht dieses alt vertrauten Platzes. Tief unten im Tale liegt still und friedlich mein Heimatdorf; kerzengerade steigt der Rauch aus den Kaminen der Häuser in die nun klare Winterluft. Vom Turme der Dorfkirche läutet die Aveglocke. Ihr eherner Schall schwingt sich über das Dorf durch das Friedatal, bis auf die Berge. Eine feierliche Stimmung umfängt mich:
Aveglocken läuten –
ich meine Hände falt.
Gottes Odem weht
durch mein Heimatland.
Über dem steilen Felshang des gegenüberliegenden Berges kreist eine Schar schwarzer Rabenvögel, an gewächsüberwucherten Muschelsteinen suchen Bergfinken noch Nahrung. Diese nordischen Wintergäste sollen als Vorboten nahender strenger Kälte gelten. Wenn sie bei dichter Schneedecke keine Nahrung mehr finden, kommen sie mit den Meisen, Goldammern, Buch- und Grünfinken zu den Futterplätzen ins Dorf. Ebenso das Rotkehlchen, welches mir von einem Baumstumpf aus zuknickst und mich mit seinen großen Augen zutraulich ansieht. Vor dem Austritt aus dem Holze sehe ich noch einen Würger nach Beute jagen, und schnackernd streicht eine Elster dem Felde zu.
Beglückt von all dem reinen und reichen Erleben trete ich den Heimweg an und meine Gedanken umfangen noch einmal alle die trauten Gesellen da draußen, deren Notzeit heran ist und denen wir für ihre Mithilfe am Bestände vieler Vegetation und Flora zu Dank verpflichtet sind. Darum rufe ich allen Naturfreunden zu: „Gedenket der hungernden Vögel!“
Bedeckt sind Wiesen und Felder
vom Raureif und von Eis.
Es leuchten Berge und Wälder
im silbern glänzenden Weiß.
Unter der Eislast sich neigen
die Äste der Fichten und Tannen.
Es glitzert an Nadeln und Zweigen
als wie mit Diamanten behangen.
Es blinkt und strahlt wie Edelstein
auch könnten es tausend von Sternlein sein.
Ich steh, und bestaune, und schaue die Pracht,
schau’ und bewundere – Gottes Allmacht.
Heinrich Richwien
(Quelle: Lengenfelder Echo, Nr. 1/1957)