Eine eichsfeldische Schmetterlings-Abart (1956)
Der Buchenspinner oder auch der „Nagelfleck“ – so genannt wegen der nagelförmigen weißen Flecken in seinen vier blauen Flügelaugen – hat wegen dieser weißen Flecken, die auch dem griechischen Buchstaben t = tau gleichen, von Linne den faunistischen Namen Aglia tau erhalten. Sein allgemeines Verbreitungsgebiet ist das mittlere und nordöstliche Europa. Er fliegt von Mitte April bis Mitte Mai in fast allen Buchenwäldern Deutschlands. In seinem weiten Verbreitungsgebiet ist der Falter rotbraun (Abb. 1).
Merkwürdigerweise treten besonders in unseren obereichsfeldischen Wäldern unter den braunen tau-Faltern eine große Anzahl Falter auf, – etwa im Verhältnis 10 : 2 –, welche an den Außenflügelrändern tiefschwarz gezeichnet sind. Es sind keine Varianten, die gelegentlich unter den Schmetterlingen auftreten und wieder verschwinden, sondern echte Unter- oder Abarten, welche dieses Zeichnungsmerkmal „verstärktes Schwarz“ auch vererben. Diese Art erhielt den Namen „Aglia ferenigra“ T. H. Mieg (Abb. 2).
Der engbegrenzte Lebensraum von ferenigra und sein Meistvorkommen sind besonders die Südhänge der Wälder um Kloster Zella, Lengenfeld unterm Stein und im Westerwald. Auf dem weiteren Eichsfelde fliegt er dann spärlicher und verschwindet allmählich an seinen Grenzen. Dr. Preiß, Eschwege, stellte fest, dass dieser Falter westlich der Werra nicht mehr vorkommt.
Professor Neureuter, Heiligenstadt, hat den Falter auf dem ganzen Düngebirge festgestellt, er scheint aber das breite, offene Leinetal nicht zu überfliegen. Prof. Petri, Nordhausen, schreibt, dass der Falter im Harz nicht vorkommt. Ich selbst habe ferenigra in den Wäldern des Ohmgebirges bis zu den Hauröder Klippen nur noch sehr vereinzelt vorgefunden.
Aglia tau und ferenigra sind zwar während ihres Hochzeitsfluges sehr schnelle, wilde und stürmische Flieger, wenden aber an den Waldrändern sofort wieder in den Wald. Aglia tau meidet den Flug über das weite, offene Feld. Durch diese Lebensgewohnheit schließen sich diese Falter selbst in unseren, im Allgemeinen schon isoliert liegenden Wäldern des Eichsfeldes ein. Hierdurch wird bereits ein Faktor geschaffen, welcher mit der ursprünglichen Umbildung und Abartung zu der Form ferenigra beigetragen hat. Es besteht dadurch eine verstärkte Möglichkeit zur Inzucht durch Geschwisterpaarungen. Wie ich durch meine langjährigen Zuchten und Beobachtungen feststellen konnte, ist Inzucht ein starker Faktor für die Bildung von schwarzem Pigment der tau-Falter, auf den ich in dieser Studie noch zurückkomme.
Der eichsfeidische Flugplatz der ferenigra ist den Entomologen (Insektenkennern) schon seit ungefähr 1870 bekannt. Viele Entomologen suchen im Mai unsere Wälder auf, um Weibchen zu fangen und sich von diesen Eier ablegen zu lassen. So versandten Gothaer und Mühlhäuser Entomologen jährlich in unseren Wäldern gesammelte Eier an die namhaften Entomologen Prof. Standfuß am Zoologischen Institut Zürich und Dr. Fischer und Schulz am Zoologischen Institut der Universität Jena. Ihre langjährigen Zuchten bewiesen, dass sich die Abart ferenigra dominant weitervererbt. Eine Paarung zwischen tau und ferenigra ergibt als Nachkommen der ersten Generation 50 % ferenigra und 50 % tau.
1890 wurde im Walde bei Kloster Zella ein total geschwärzter Falter aglia tau gefangen; er befindet sich im Heimatmuseum Mühlhausen.
Der Umstand, dass ich selbst im Zentrum des Fluggebietes dieser Falter wohne, und nicht zuletzt der Anreiz sind die Ursache, dass ich erforschen wollte, welche Umwelteinflüsse außerdem noch die schwarzen tau-Formen im Eichsfelde hervorbringen.
1923 legte ich ferenigra-Zuchten an, um vorerst homozygotische, d. h. rassereine ferenigra zu erhalten. Das erreichte ich nach zwei Jahren, und nun begann ich auszulesen. Ich paarte jeweils die immer schwärzesten ferenigra-Geschwister und erhielt in der zweiten Generation drei total geschwärzte Formen (Abb. 3). Diese Form erhielt den Namen „ferenigra extrema Rummel“. Sie war ebenfalls erblich, aber nicht dominant, sondern rezessiv (verdeckt). Bei Einkreuzungen mit der Stammform erhielt ich auch die geschwärzte Form tau, wie sie 1890 im Walde bei Kloster Zella gefangen wurde.
Diese Form erhielt nun den Namen „Stammform extrema Rummel“. Im Großschmetterlingswerk Mitteldeutschlands von Dr. Arno Bergmann, Band 3, von Seite 302 bis 309, auf den Tafeln 94a und 94b ist diese Form in Wort und Bildern erwähnt.
Durch den Faktor der Inzucht – besonders bei den Geschwisterpaarungen – komme ich zu folgenden Erkenntnissen: Durch mehrmalige Geschwisterpaarungen der Stammform tau sowie ferenigra werden in ihren Vererbungschromosomen verstärkte Schwarzbildner erzeugt, die total geschwärzte Falter als Nachkommen erzeugen, die diese Eigenschaft weitervererben. Solche Eigenschaften können – wie der Fang von 1890 beweist – auch in der freien Natur vorkommen.
Außer der durch die Isolierung der eichsfeldischen Wälder bedingten Inzucht sind aber in unserer Landschaft noch andere Faktoren vorhanden, welche die Verdunkelung und Schwarzfärbung bei Schmetterlingen fördern, in besonderem Maße ist es das Klima. Besonders unsere südwärts gelegenen Täler und Tälchen haben im Hochsommer in ihren Wäldern feuchte Wärme bis manchmal 37 Grad, im Winter und besonders im Vorfrühling starke Kälte mit viel feuchten Nebeln. Ich habe Temperaturversuche mit Schmetterlingspuppen gemacht. Als Bäckermeister von Beruf habe ich auf meinem Backofen in selbstverfertigten Apparaten viele Hitze- und Wärmeversuche angestellt und die Reaktion beobachtet. Feuchte Wärme zwischen 36 bis 38 Grad erzeugt viel Schwarzfärbung. So erzielte ich für meine Sammlung sehr schöne, total schwarz gefärbte Trauermäntel, deren gelber Saum nicht mehr zu erkennen ist. In nasskalten Kellern habe ich unter Zuhilfenahme von Kälteverstärkern mit Puppen des kleinen Fuchses experimentiert und viel die Varianten „polaris“ erhalten, und bei diesen Versuchen habe ich herausgefunden, dass hochgespannte feuchte Wärme und feuchte Kälte gleicherweise auf die Puppen wirken.
Beide Temperaturen sind Schwarzbildner. Somit müssen wir auch den Einfluss des Klimas als Faktor der Umbildung von braunen Aglia tau zur geschwärzten Aglia ferenigra als charakteristische Erscheinung des Eichsfeldes mit in Betracht ziehen. Diese Umwelteinflüsse als „Dauerreize“, verbunden mit der Eigenabschließung in dem abgeschlossenen Lebensraum und dem öfteren Zwang zu Verwandtschaftspaarungen sind die Faktoren der Umbildung zu den geschwärzten aglia-tau-Formen des Eichsfeldes.
Lambert Rummel
(Quelle: Eichsfelder Heimatbuch. Ausgewählt und zusammengestellt von Walter Prochaska. Heiligenstadt: Cordier, 1956)
Bildunterschriften:
- Abb. 1: Buchenspinner, Stammform, Aglia tau
- Abb. 2: Buchenspinner, geschwärzte Form, Aglia ferenigra
- Abb. 3: Buchenspinner, total schwarze Form (Aglia ferenigra extrema Rummel)