Eine Weihnachtserinnerung aus meiner Jugendzeit

Mariengrotte Es war in der Heiligabendnacht 1908. Auf schneeverwehtem Bergpfad steige ich gegen 4 Uhr morgens mit meiner Großmutter zu der am Berghange des Dünberges ehemals stehenden Grotte empor. Über die schneebedeckte Flur leuchtete der Mond; am Himmel funkelten die Sterne und unter meinen rindledernen Schuhen knirschte der Schnee. Oben am Bergrain (Rotkelchensborn) war die kleine Quelle im Frost erstarrt. In kristallenem Glitzer hingen an Wurzeln und Steinen lange Eiszapfen. Durch das Geäst der Bäume schien der Mond, und die Zweige der Fichten neigten sich unter der Schwere der Schneepolster. Im Schatten des südlichen Steilhanges stand die aus Tropflochsteinen erbaute Grotte. Während meine Großmutter die Kerzen am Weihnachtsbaum in der untersten Nische anzündete, kletterte ich auf einer Leiter an der Grottenbogenwand empor, steckte in die eingemauerten Drahtringe bunte Lampions und zündete die darin steckenden Kerzen an. Strahlendes Kerzenlicht umgab die auf einem Sockel stehende Madonna – und ringsumher glitzerte und flimmerte auf den Zweigen an den Bäumen und Sträuchern der Schnee. Unten im Dorfe leuchtete durch die Fensterscheiben der Häuser Lampenlicht; aus den Kaminen stieg der Rauch und vom Turme der Dorfkirche rief feierliches Glockengeläut die Dörfler zur Christmette.

Während meine Großmutter ihrem Heim, dem Häuschen auf dem oberen Rand des Hohlweges (heute Bahnhofstraße) zustrebte, hatte ich schon mein Elternhaus erreicht.

In der behaglich warmen Küche dampfte und summte auf der Herdplatte der Kaffeekessel. Die Geschwister lagen in froher Erwartung der Weihnachtsbescherung noch in den Betten der Erkerkammer. Nach der Christmette zündete Vater die Kerzen am Weihnachtsbaum an. Ein jedes meiner Geschwister bekam einen mit Nüssen, Gebäck und einem Spielzeug gefüllten Teller. Freudig wurden dann die Spielsachen ausprobiert und die Puppen gestreichelt. Ich freute mich über den gewünschten Buntstiftkasten. Umgeben von Kerzenlicht und Tannenduft und beim Singen der Weihnachtslieder strahlten neun Paar Kinderaugen und mit uns freuten sich die Eltern.

Vor etwa 20 Jahren stürzte die Grotte infolge eines Erdrutsches zusammen und musste abgerissen werden. Am Bergrain unter Hasel und wilden Schneeballbüschen rieselt noch über Steingeröll und Wurzeln das silberklare Wasser der kleinen Quelle. Die Linden, Ahorn und Fichten, die Espen, Eschen und Birken sind zu stattlichen Bäumen herangewachsen, in deren Schatten ich gerne verweile. Und rauscht dann der Wind in den Wipfeln, dann ist es, als flüsterte es mir aus den Zweigen zu: Weißt du es noch – damals in der Weihnachtsnacht? –
Ja, ich weiß es noch, denn es ist mir eine unvergessliche Jugenderinnerung geblieben.

Heinrich Richwien
(Quelle: Lengenfelder Echo)