Eine Wallfahrt zum Hülfensberge (1910)

Das protestantische Thüringen besitzt keine Wallfahrtsstätten mehr, seitdem im Sturmwinde der Reformation all jene geweihten Stätten in Staub und Trümmern sanken, zu denen einst die Menge pilgerte, an diesen Gnadenorten unbegreifliche Heilswunder zu erfahren. Wohin es mit wehenden Kirchenfahnen unter dem Absingen frommer Wallfahrtslieder ging, um dann nach zerknirschter Beichte, Opferspende und Ablaß auf dem fröhlichen Heimwege des Lebens oft recht sehr gemischte Freuden in derber Sinnenlust bis auf die Nagelprobe auszukosten. Wenn der kleine Bruchteil der Thüringer – die meisten bleiben jedoch lieber daheim, der Pflicht und Ordnung nachzukommen! –

trotzdem wallfahren will, so wendet er sich hinab ins Frankenland nach Vierzehnheiligen, oder zieht hinan zum Eichsfelde, wo auf dessen westlichstem Felskap hoch über dem Werraspiegel zwischen Wanfried und Eschwege, die weit hinaus leuchtende Wallfahrtskirche des Hülfensberges talauf und -ab die Gläubigen mit hellen Glockenklangen zur Andacht ruft. –

In fernen Tagen, da über das gesamte Thüringer Land noch Könige herrschten, ehe nach der dreitägigen Schlacht bei Burg Scheidungen an der Unstrut dieses Reiches Schicksal besiegelt wurde, da bildete das Eichsfeld einen Teil desselben. Dann kam es unter die Krone der Franken, um später dem Erzbistum Mainz unterstellt zu werden. Wohl herrscht heute die weltliche Macht des Krummstabes über dem rauhen Hochlande nicht mehr, doch das Eichsfeld blieb eine katholische Insel inmitten der evangelischen Gemeinschaften. Zwar fand anfangs auch hier droben die Reformation rasch Eingang. Doch der Erzbischof Daniel(gestorben 1582) setzte im Verein mit rührigen Jesuiten energisch alles daran, das verlorene Stück deutschen Bodens wieder zurückzugewinnen.

Wie an so vielen Stätten Thüringens ist es auch hier auf dem Hülfensberge oberhalb des Dorfes Geismar wieder der Schatten des unerschrockenen Sendboten Bonifazius, der uns grüßt. Auch den Nichtkatholischen gilt ja dieser tapfere Glaubensheld als ein Mann, zu dem wir noch heute mit Bewunderung emporblicken. Unbedingt müssen wir Thüringer ihm danken, daß er einst in unsere unwirtsamen Wälder das Feuer besseren Glaubens, eine gesteigerte Kultur, Licht und mildere Sitten kühn hineintrug. Es war ihm sehr ernst mit seiner Aufgabe, die Menschheit für das ewige Reich zu gewinnen, und mehr denn einmal war sein Leben bedroht, bis er es denn auch unter den Axthieben heidnischer Friesen hingeben mußte. Doch mindestens so energisch wie für die Ausbreitung des Christentums, hat er für eine durchgreifende Romanisierung der fränkischen Kirche gearbeitet, eine Aufgabe, die ihm, der von einer Ehrenstufe zur anderen emporstieg, am allermeisten am Herzen lag. Bei der elften Säkularfeier seines Todes, 1855, hat dies die katholische Kirche selbst rückhaltlos und rühmend hervorgehoben, welch hohe Verdienste um die römischhierarchische Entwickelung der deutschen Kirche dieser Apostel sich erworben habe, dessen irdisch Teil zu Fulda, seiner Lieblingsschöpfung, ruht.

Was hat nun diesen Sendboten Christi die gewaltige Macht über die Gemüter der finster abseits stehenden Heiden ausüben lassen? Nicht die Unterstützungen der Fürsten, nicht das Einwirken eines Karl Martell und Pippin des Kleinen haben dies beschleunigt, bis endlich ein heidnischer Stamm nach dem anderen sich vor dem Kreuze demütig beugte. Das sind doch in der Hauptsache jene sogenannten Wunder allein gewesen, welche dem bisherigen Glauben an die rächenden Götter einen so starken Stoß versetzten. Auch die hübsche Wallfahrtskapelle auf dem Hülfensberge will den jährlich zu Tausenden herbeiströmenden Gläubigen von solch einer Wundertat erzählen. Aus dem sonnübergossenen Kirchendache ragt ein dunkler Baumstumpf empor, der Rest der Donar-Eiche, die einst Bonisazius hier droben unter den Augen der bebend harrenden Heiden kühn fällte. Und da kein rächender Widerspruch der beleidigten Götter erfolgte, so fielen die Heiden ab von ihnen und huldigten der Lehre Christi.

Von dieser Tat erzählt auf dem Hülfensberge der früher Staufenberg soll geheißen haben, nicht nur der Rest der angeblichen Donar-Eiche über dem Dache, auch in einer neuen, abseits stehenden Kapelle ist in Marmor eine treffliche Darstellung dieses Vorganges zu schauen. Trotzdem steht es für jeden ernsthaften

Forscher heute fest, daß diese mutige Tat des Apostels sich gar nicht hier droben, sondern oberhalb des Dorfes Geismar in Hessen, unweit Fritzlar, zugetragen hat. Die „Vita Bonifacii“ besagt ausdrücklich, daß diese Stätte bei Friedeslere (Fritzlar) liege, wo ja auch der Apostel damals ein stattliches Kloster gründete. Aus dem Holze der gefällten Eiche aber soll er eine kleine Kapelle haben errichten lassen. Durch diese Feststellung gewissenhafter Forscher wird der katholischen Kirche nichts geraubt, wenn auch dem Hülfensberge freilich der wundertätige Zauber genommen wird, der einer anderen Stätte gebührt. Schließlich wird auch diese Entdeckung für die Wallfahrer keine Einwirkung haben. Jahrhunderte haben eben ihren Segen darüber gesprochen, und so wird sich auch das Eichsfeld die Echtheit seiner Donar-Kirche nicht bemängeln lassen.——

Doch auch ohne Bonifaziuserinnerungen würde der Hülfensberg (der heiligen Jungfrau Hilfe bedeutend) immer ein Wallfahrtsort bleiben müssen. Sein helles Kirchlein, neben dem sich ein kleines, schlichtes Franziskanerkloster angesiedelt hat, lockt schon auf Meilen den Wanderer hinan. Vom Dorfe Geismar begleiten Leidensstationen den Pilger zur Bergeshöhe. Ruhebänke stehen überall. Wallfahrtspferde schlängeln sich in Fülle durch Busch und Wald steil empor. Ein verfallener Gottesacker schmiegt sich an das lichtfreundliche Kirchlein. Und tritt man dann nach Westen vor an die Felsenkante, so öffnet sich talein ein herzbezwingender Anblick, der in seiner Schönheit und Erhabenheit weitaus tiefer die Seele faßt und dem Ewigen entgegenführt, denn aller Wunderglaube und alle fragwürdigen Holzreste einer Donar-Eiche.

Wer da will echtes Wallfahrtstreiben auf dem Hülfensberge einmal schauen, der muß am Sonntage nach Pfingsten, dem Trinitatisfeste, hinanziehen. Das ist der sogenannte „goldene Sonntag“ der Thüringer Waldbevölkerung, die an diesem Tage hinaus zieht in ihre Wälder, einen anderen Gottesdienst zu feiern. Denn an diesem Tage sind alle heilsamen Wurzeln und Kräuter gesegnet, und wer diese heimträgt, der scheucht Krankheit und Tod aus dem Hause. Das Eichsfeld aber wallfahrtet zu seinem Hülfensberge.

Von Wanfried aus führt der nächste Weg über Bebendorf hinan zur geheiligten Stätte. Wer aber mit der Zeit nicht zu bemessen ist, der steige zur Plesse empor und wandle nun durch köstlichsten Laubwald über die aussichtsreiche Keudelskuppe, am Gute Keudelstein vorüber, hinüber. Alle Poesie deutscher Waldherrlichkeit wird ihn dort oben umfangen. In das feine Rauschen der Laubkronen mischt sich Vogelsang; hell klingen die Glocken der Wallfahrtskirche dazwischen. Zuweilen vernimmt man den Sang der Responsorien langsam emporziehender Waller. Trinitatisfest! In das Geläut der Wallfahrtskirche fallen nun die schlichten Dorfglocken des Werratales in der Tiefe ein.

Der Wald hat uns entlassen. Sturzacker, Hügelwellen, Hohlwege zeigen sich dem Auge. Und noch mehr heute. Von allen Seiten quillt es in Menschenmassen heran. Es drängt sich in langen Zügen, kleineren Trupps und Einzelwallern zum geweihten Berge. Alle Pfade und Wege sind überströmt und übertupft von buntem Gewimmel, in dem die Sachsengänger besonders den farbigen Einschlag geben. Niedrige, stupide Gestalten mit plattgedrückten Nasen und von Sommersprossen übersäten braunen Gesichtern. Hier schleicht ächzend auf Krücken ein elendes Menschenkind heran. Dort nähert sich stolz ein ganzes Dorf. Ein Alter trägt sehr bewußt die Kirchenfahne, zwei Burschen in buntbebänderten Mützen halten dicke, von Blumen umwundene Wachskerzen in den schwieligen Händen. Am Wege ist ein blasses Weib zusammengesunken. Seine Augen gehen wie irre in die Runde, als warte es des Heilandes, daß er ihm die Hand reiche und ihm heiße, gesund aufzustehen. Ein hübsches Enkelein kommt weiterhin angetrippelt. Es führt den zitternden Großvater an der Hand und redet ihm zu, wenn dieser prustend mal stehenbleibt. Es will rascher dort hinauf, wohin so viele geputzte Menschen ziehen, von wo die Glockentöne kommen, wo es heute noch wird Wunderherrlichkeiten schauen und Süßes und Gebackenes zu essen bekommen. Und immer neue Waller tauchen auf. Vor den Leidensstationen liegt man wie gebrochen in Sünd und Schanden. Andere ziehen nur die Mützen oder schlagen ein Kreuz. Näher und näher rückt die Kuppe. Der schwüle Duft der Weihrauchfässer schlägt uns bereits entgegen. Gesang und Gebetmurmeln dringt immer näher ans Ohr. Nun sind wir oben angelangt.

Die Kuppe ist eingesäumt mit Verkaufsbuden aller Art. Schanktische und flüchtig überdeckte Lauben mit roh gezimmerten Bänken ziehen sich nach Westen hin. Doch der Verkauf und Ausschank ist noch nicht erlaubt. Erst nach der Hauptpredigt öffnet sich des Volkes „wahrer Himmel". Das Gotteshaus ist dicht gefüllt mit Andächtigen. Andere harren zu Vielhunderten draußen, bis ihnen drinnen für kurze Zeit Raum gewährt wird. Alle Häupter sind entblößt. Man liegt auf den Knien, murmelt Gebete, läßt die Rosenkränze durch die Finger gleiten, starrt mit neugierigen Augen in das bunte Getriebe. Andere wieder sind bis zur Kirchenmauer gerutscht und pressen in tiefster Zerknirschung den Kopf gegen die lichtgetönte Wand. Von drinnen hallt Orgelspiel und Wechselgesang, dann wieder Klingeln vom Altar her und lateinisches Singen. Nicht einen Augenblick bleibt das fesselnde Bild unbewegt. Immer neue Züge mit Wallfahrern tauchen aus der Tiefe auf. Und jetzt entsteht ein Gedränge. Alle Köpfe recken sich auf. Man richtet sich empor und schiebt hinüber zu einer im Freien errichteten Kanzel. Ein braunkuttiger Franziskaner windet sich durch die Menge. Nun steht ev oben. Er zieht ein rotgeblümtes Taschentuch aus dem faltigen Gewande und trocknet sich die dicken Schweißperlen von dem Antlitz. Er läßt die kullerrunden Äuglein über die Beter und Gaffer kreisen, und ein zufriedenes Lächeln gleitet über sein Gesicht. Dann hebt seine Rede an. Kräftig und volkstümlich, wie es der Mann aus dem Volke braucht. Immer eifriger, immer lauter hebt er die Stimme, ab und zu wieder das rotgeblümte Taschentuch in Bewegung setzend. Er weiß die Herzen zu fassen und aufzurütteln. Und als er die Flammen des ewigen Fegefeuers emporlodern läßt, da geht ein tiefes Seufzen durch die Massen, und wie hilfeheischend hängen jetzt die Augen an dem Gottesmanne. Drohend schüttelt er die hochgereckten Arme in der Luft, und während ihm der Schweiß über das Gesicht rinnt, fordert er Seele um Seele für den Himmel. Da sieht man Hände gegen die Brust gepreßt, andere schlagen ein Kreuz oder starren weltentrückt hinauf in die Himmelsbläue, die heute so selig, so friedenverkündend über Berg und Tal sich wölbt.

Noch immer donnert der Franziskaner von ewiger Vergeltung da geht eine starke Bewegung durch die dichtgeschlossenen Reihen. Fegefeuer, Buße, alle Schrecknisse der Hölle scheinen plötzlich vergessen. Man erhebt sich, drängt ungestüm vorwärts, das farbenschillernde Gepränge eines neuen Bildes nicht zu versäumen. Weihrauchwolken und Responsorien künden etwas Feierliches. Unter einem purpurnen Himmel, den vier Kirchenknaben in kleidsamer Tracht tragen, naht der Bischof, geleitet von den in goldschimmernden, altertümlichen Gewändern stolz einherschreitenden Geistlichen. Kirchenfahnen flattern schwer. Man führt die güldene Monstranz hinüber zu einem Altar, der unter Bäumen. dem Heiligen dieser Stätte, Bonifazius, errichtet worden ist. Da sinkt alles in die Knie. Man vernimmt nur noch das leise, demütige Gebetsmurmeln der berauschten Menge, während am Altar nun das geheimnisvolle, seltsam fesselnde Schauspiel der heiligen Handlung anhebt.

Eine halbe Stunde später werden die Buden geöffnet. Die Volksmesse beginnt. Aus den Biertonnen fahren knallend die Spundpfropfen heraus. Schäumend füllen sich die Gläser. Der Dampf von Rostwürsten mischt sich mit Weihrauchduft. Im Nu sind sämtliche Bänke von durstigen und hungrigen Betern besetzt. Das ist ein Begrüßen, Händeschütteln und Gläserzuschwenken, ein Lachen und Genießen irdischer Freuden! Den Qualen des Fegefeuers entronnen, atmet die arme Menschenseele auf und besinnt sich wieder auf Erdengelüste. Doch auch die Händler in den eigentlichen Verkaufsbuden brauchen nicht die Köpfe hängen zu lassen. Niemand hier droben, der nicht vom Hülfensberge ein Andenken für sich oder die daheim Gebliebenen mitnehmen möchte! An Auswahl ist ja kein Mangel. Da finden wir zierliche Weihbecken und Heiligenfiguren aus Porzellan, Kreuze, Rosenkränze aller Art, Heiligenbilder mit Spitzen, Wachskerzen und Wachsherzen, auch Erinnerungsstücke nicht frommer Art, ferner für die Kleinen süßen Tand und dann... Postkarten mit Ansichten in überreicher Fülle.

Immer lustiger hebt sich das Leben unter den Zeltdächern, klingen die immer wieder gefüllten Gläser aneinander, während jenseits von Geismar herauf stets neue Waller heranziehen, zwischen Kirche und Kloster die Andächtigen knien, rutschen, beten und ihr bißchen Herzeleid und Sündenlast zerknirscht den hinter dunklen Vorhängen in den Beichtstühlen versteckten Priestern anvertrauen. Hier aufgepeitschte Andachtsglut, dort lebensfrohes Genießen! Und darüber der Glocken unaufhörliches Bimmeln und Läuten! Durch die Baumkronen singt der Sommerwind, der weite, weite Himmel blaut, und über die Berge rollt hoch über Menschengetriebe, Göttern und Götzen, die ewige Sonne in junger Schöne, wie sie der Herr am ersten Schöpfungstage hinaus entsandte, der Erde Licht, Freude und Segen zu bringen.————

Spätnachmittag ist herangekommen. Der Gottesdienst ist längst vorüber. Aber die Pforten der Kirche und der Bonifaziuskapelle stehen noch weit auf, Weihrauchduft und Menschendunst hinauszulassen. Vereinzelte Beter nahen sich noch den geheiligten Stätten, schlagen ein Kreuz, besprengen sich mit Weihwasser, knien nieder und verrichten ein Gebet. Auf dem Festplatze aber ist's still geworden. Die Budenbesitzer zählen die Einnahmen, schließen befriedigt ihre Geldkatzen und beginnen den Rest ihrer Handelswaren einzupacken. Alle Wege und zertretenen Grasflächen sind übel bedeckt mit Papierfetzen und sonsterlei, was an abgehaltene Mahlzeiten erinnert. Am bischöflichen Altar stehen ein paar hübsche Kirchenknaben. Es war heute anstrengender Dienst. Da ist man sich schon etwas schuldig. Jeder hält ein Stück Kuchen in der Hand und versenkt ab und zu die Zähne lachend hinein. Und als sie damit fertig sind, da lachen sie sich wieder an. Der eine wirft seitlich einen forschenden Blick zum Kloster hinüber, dann hält er plötzlich beide Hände auf den Rücken und fragt den anderen: „Rechts oder links?“

„Ja, hast du denn noch „Rechts oder links?“

„Links!“

„Nun kriegst du wahrhaftig das größere! Da!“ Und er reicht dem Kameraden ein Stück Tafelschokolade hin. Sie kauern auf einer Altarstufe nieder und lassen es sich wohl munden. Über das milde Antlitz des Gekreuzigten aber scheint ein Lächeln zu gleiten. –

Aus den Tälern in der Tiefe hallt zuweilen noch verwehendes Juchzen und Kreischen heimwärts ziehender Wallfahrer. Dann verschwimmt auch dieses. Der Abend nimmt alles in seinen weichen, hüllenden Mantel auf. Ich bin noch einmal ganz vorn an die Spitze des Berges gegangen. Einsam hält dort ein schlanker, junger Franziskaner. Das blasse Gesicht ist der scheidenden Sonne zugerichtet. Seine dunklen Augen blicken verträumt. Der Tag hat der dumpfgläubigen Menge gehört. Nun sucht seine Sehnsucht sich ihren Himmel auf. –

August Trinius
(Quelle: „Düsseldorfer Zeitung“, Ausgabe vom 22.4.1910)