Eine Kirmesfeier nach altem Brauch (1925)
Mit der Beendigung des unseligen Krieges glaubte man schon, aller Humor sei geschwunden, und alle Sitten und Gebräuche aus Väter Zeiten würden nie wieder rechte Lebenskraft erhalten. Das ist nicht so. In den Spinnstubenabenden hört man wieder harmlose alte Scherze und Lieder, und manches Jugenderlebnis wird aus versteckten Winkeln herausgekramt. Besonders sind es unsere Kirmesfeiern, die die alte Gemütlichkeit wieder aufkommen lassen. Diese Zeilen sollen in kurzen Umrissen den Verlauf einer Kirmesfeier schildern.
Der eigentlichen Kirmesfeier geht die am Donnerstag beginnende Vorkirmes voraus. Im Festlokal finden sich am Abend sämtliche Burschen des Dorfes ein, wo erst das Festprogramm besprochen und festgelegt wird. Ist das geschehen, so geht es an das Kartoffelpufferbacken. An dem Reiben der Kartoffeln beteiligt sich jeder, wobei es nicht selten blutende Fingerknöchel gibt und der Brei ein rosafarbenes Aussehen erhält. Dessen ungeachtet wird tüchtig gebacken und gegessen, und ein Fässchen Bier lässt Appetit und Stimmung immer besser werden. Da sich nicht alle gleichzeitig an der Zubereitung beteiligen können, wird fleißig „Schinkenklopfen“ geübt. Unter Gesang und Frohsinn endet dieser Abend.
Der Samstagabend dient zuerst zur Säuberung und Ausschmückung des Angers. Die im Festlokal versammelten Burschen marschieren an den Eingang des Dorfes, wo die Musik erwartet wird. Als diese anlangt, so geht es unter Vorantragen von Fackeln zu den beiden Platzmeistern, denen in der Wohnung ein Ständchen gebracht wird. Nun werden Burschen und Musik von den Platzmeistern mit Wurst, Brot, Butter, Zigarren und Getränken bewirtet. Nach Beendigung des Schmauses beginnt der Umzug nach dem Anger.
Ist der Anger im vergangenen Jahr durch ein fehlerhaftes „Lämmchen“ verunehrt worden, so wird er an diesem Abend angebrannt. Der Zug bewegt sich nun in den Saal. Hier werden die Erstlinge, das sind jene Burschen, die das erste Mal in den Reihen der Kirmesburschen das Fest mitmachen wollen, mit einem großen, hölzernen Rasiermesser rasiert. Ein Eimer mit dem nötigen Seifenschaum wird herbeigeschafft, und das Bürschlein wird tüchtig eingeseift, rasiert, mit feiner Kohlenasche gepudert und mit einem angemalten Barte unter dem Jubel der Umstehenden entlassen.
Der Sonntagsmorgen vereinigt die Burschen zum gemeinsamen Kirchgang unter Vorantritt der Musikkapelle. Nach dem Amt erhalten der Pfarrer und der Lehrer des Ortes ein Ständchen. Im Saal ist dann die Fortsetzung des Rasierens, verbunden mit einem Tänzchen.
Am Nachmittag ist Umzug durchs Dorf. Von zwei Burschen wird die sogenannte „Schleifkanne“, ein etwa 80–40 Liter fassendes hölzernes, bunt bemaltes Gefäß, auf einer Stange dem Zug vorangetragen. Sie diente früher zur Aufbewahrung des Bieres, heute ist sie nur ein altes Andenken.
Beim Gemeindevorsteher erfolgt die Wahl der zwei neuen Platzmeister. Der Umzug endet unter der großen Linde, wo bei schönem Wetter getanzt wird und von zahlungskräftigen Zuschauern „Gesundheiten“ ausgebracht werden. Während dieser Zeit belustigt sich die übrige Jugend auf Schaukeln, Karussells und in Zuckerbuden. Am Abend erfolgt der Einmarsch in den Saal, wo nach einstündiger Pause der Tanz beginnt und Jung und Alt Kirmes feiern.
Der Montag verläuft in gleichem Takt, doch wird in einem Seelenamt der Verstorbenen gedacht; an den beiden folgenden Tagen wird eine Hl. Messe für die Mädchen und Burschen gelesen.
Der dritte Tag hat eine alte Sitte wieder aufleben lassen, die jahrzehntelang nicht mehr gepflegt wurde; es ist das Hammelessen. Gegen Mittag wird auf einem mit Grün geschmückten Wagen ein bekränzter Hammel mit Musik durchs Dorf gefahren. Buntes „Zigeunervolk“, das sich aus den Burschen zusammengesetzt hat, begleitet das Schlachtopfer. Am Anger angelangt, beginnt ein wilder Tanz um das auf dem Angerstein geduldig wartende Lamm. Ist der Tanz beendet, so erfolgt unter Trauerklängen der Musik das Schlachten des Tieres. Es wird dann abgezogen und auf seine eigene Haut aus dem Wagen hingelegt und zum Gasthaus gefahren, wo es am Nachmittag verzehrt wird. Das Bier hilft dann, manchen zähen Hammelbraten besser zu verdauen.
Die Kirmesfeier schließt mit einem feuchtfröhlichen Tanz.
Quelle: „Eichfelder Volksblatt“, 27.10.1925