Eine Grenzgeschichte (1990)

Es war Ende der 50er Jahre, wir wohnten damals mit unseren 6 Kindern im Grenzgebiet in Lengenfeld unterm Stein (Kreis Mühlhausen). Mein Mann war ABV im Ort (Abschnittsbevollmächtigter der Volkspolizei). Unser Ältester, Manfred, war etwa 13 – 14 Jahre alt und immer unternehmungslustig, viel unterwegs, um die wunderschöne Gegend auszukundschaften. Der Sohn vom Arzt war sein bester Freund, und sie waren in jeder freien Minute zusammen. Aber nun zu meiner Geschichte:

Eines Tages in den Sommerferien sagte Manfred zu mir: „Mutti, packst du mir bitte etwas zu essen und eine Flasche Tee ein, wir zwei wollen heute eine Tagestour machen, zu Abend sind wir wieder da.“ Ich konnte mich auf meine Kinder eigentlich immer verlassen, also hatte ich keinen Argwohn und stimmte zu.

Die beiden zogen los mit Rucksack und Fernglas, ich sah sie noch bis zum Waldrand, dann waren sie meinen Blicken entschwunden.

Es war ein wunderschöner Tag, sie liefen kreuz und quer durch den Wald, durch Felder und Wiesen – bergauf, bergab – und sahen dann so gegen 15:00 Uhr ein Dorf etwa 2 km entfernt vor sich liegen.

Die zwei waren sich einig, in den Ort zu gehen und eine Brause in der Gaststätte zu trinken. Die Gaststätte war schnell gefunden, und sie bekamen von der freundlichen Wirtin auch die bestellte Limonade. Als es aber dann ans Bezahlen ging, sagte die Wirtin: „Kinder, dieses Geld nehme ich aber nicht, wo kommt ihr denn überhaupt her?“ Als diese Frage von den beiden wahrheitsgetreu beantwortet war, sagte die Frau: „Wisst ihr denn eigentlich, wo ihr hier seid?“ Auf das Kopfschütteln der Jungen sagte sie: „Ihr seid in Wanfried – in der BRD.“

Da war nun guter Rat teuer, der letzte Bissen ihres Brotes blieb ihnen buchstäblich im Halse stecken, und die Angst war groß.

Manfred dachte darüber nach, was sein Vati für Schwierigkeiten kriegt, wenn sein Sohn illegal im Westen war, und der Freund hatte auch mächtige Angst vor den Folgen!

Die Wirtin beruhigte die zwei erst mal und telefonierte dann mit dem westlichen Grenzkommando. Es dauerte nicht lange, da kam ein Geländewagen und holte die beiden „Grenzgänger“ ab. Sie wurden am Grenzstreifen dem östlichen Grenzkommando übergeben. So gegen 17:00 Uhr klingelte bei uns das Diensttelefon. Es war unser Grenzkommando im Nachbarort Hildebrandshausen – sie sagten, wir sollten unseren Sohn und dessen Freund abholen. Mein Mann fuhr sofort los, wir wussten ja immer noch nicht, was los war. Der damalige Hauptmann des Kommandos war mit uns befreundet, und nur ihm hatten wir es zu verdanken, dass dieser „Grenzgang“ keine ernsthaften Folgen für uns hatte!

Mein Sohn Manfred hätte Ihnen diese Geschichte noch viel lebendiger schildern können, er ist leider vor 21 fahren bei einem Grubenunglück ums Leben gekommen.

Anmerkung: Seit den siebziger Jahren verfügten Transportbusse für zurückgekaufte Häftlinge über Nummernschilder, die sich um 180 Grad drehen ließen. Im Niemandsland wurde auf Knopfdruck vom DDR-Kennzeichen auf bundesdeutsches Kennzeichen umgeschaltet (vgl. Der Spiegel 50/1989, S. 68).

Elisabeth Merkel
(Quelle: Andreas Hartmann und Sabine Künsting (Hg.): Grenzgeschichten. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 1990, S. 138-139)