Eine Adventsfeier in Lengenfeld unterm Stein (1952) - Über den Beginn der evangelischen Pfarrgemeinde in unserem Heimatdorf im Jahre 1897

Die Pfarrchronik von Großtöpfer erzählt, dass im Jahre 1897 die evangelischen Gemeindemitglieder von Lengenfeld unterm Stein an den Pfarrer von Großtöpfer mit der Bitte herantraten, er möge auch in Lengenfeld Gottesdienst halten. Der Geistliche ging auf diesen Wunsch ein. Freilich wollte sich, so berichtet die Chronik, kein geeigneter Raum finden lassen, aber der damalige Revierförster auf dem Bischofstein erbot sich, sein Wohnzimmer kostenlos für diesen Zweck zur Verfügung zu stellen. Am ersten Advent des Jahres 1897 wurde also der erste Gottesdienst gehalten, wobei der Förster den gemeinsamen Gesang auf der Zither begleitete. Alle 15 Erwachsenen und zwei schulpflichtigen Jungen waren erschienen.

Wer in der Diaspora lebt, weiß um die Innigkeit des Glaubenslebens dort. Die Gläubigen werden einander Brüder und Schwestern, und der Geistliche ist ihnen „pater familias“, Familienoberhaupt. Und wenn noch dazu Advent ist, die Zeit des Näherrückens von Mensch zu Mensch und des gemeinsamen Aufblickens, dann wird aus der Gemeinde eine einzige große Familie. Solches erlebten die evangelischen Glaubensbrüder am ersten Adventssonntag des Jahres 1897 in Lengenfeld unterm Stein.

„Macht hoch die Tür, die Tor’ macht weit! Es kommt der Herr der Herrlichkeit“, sangen damals die Männer und Frauen, und gar traulich klang die Zither, dieses echte, rechte Instrument des Volkes, dazu. Es war ein Feiertag der Seele, den die kleine Gemeinde in der Försterwohnung erlebte. „Komm, o mein Heiland Jesu Christ! Mein Herzenstür Dir offen ist“, war für diese Menschen mit einem Male Wirklichkeit geworden. Sie wussten selbst nicht, wie es kam. Es war auf einmal da, wie ein unvermuteter, wärmender Sonnenstrahl aus einem über und über verhangenem Himmel. Die Worte, die der Pfarrer sprach, kamen von Herzen und gingen zu Herzen:

„Ein ganzes Kirchenjahr mit Freud und Leid, mit Gottes Hilfe und Gnade liegt hinter uns. Wieder ist Advent ins Land gekommen, und keiner weiß, ob er des nächsten Kirchenjahres Ende erlebt. Wie so vieles ist auch der Advent in die Hände der ‚Frau Welt‘ geraten, die Walther von der Vogelweide in seinem Abschiedslied so nennt. In einer Elegie klagt er, der große Minnesänger, dem das Haar weiß geworden ist:

‚O weh, wohin sind sie verschwunden, alle meine Jahr,
ist mir mein Leben geträumet oder ist es wahr?‘

Auch wir wissen nicht, wohin in unserer schnelllebigen Zeit das hinter uns liegende Jahr gekommen ist. Aber wenn uns auch ‚Frau Welt‘ mit ihren Armen umschlossen hält, so wollen wir doch unserer Erlösungsbedürftigkeit, das heißt unserer Sündhaftigkeit, bewusst bleiben. Denn nur so dürfen wir auf Erlösung hoffen. Das Lied, das wir eben sangen, hat einer geschaffen, der im Dreißigjährigen Krieg lebte, da Berge von Not über unserem armen Vaterlande lagen. Trotz allen Elends aber ging diesem Manne der Friede nicht verloren, weil er Frieden mit Gott hatte. Und auf diesen kommt alles an!“

Der Pfarrer hatte geendet. Draußen vor den Fenstern lag ein rechter Wintertag, und es schien, als zittere der Himmel über den Bergen des Südeichsfelds selig bang vor Erwartung. Still und feierlich standen die Bäume, wie mit ausgebreiteten Armen, betend. Wieder erklang die Zither, von des Försters Händen gespielt: „Gott sei Dank durch alle Welt, der sein Wort beständig hält.“ Eine Strophe des uralten Liedes nach der anderen sangen die Männer und Frauen und Kinder, und sie wuchsen zu einer innigen Gemeinschaft, als es ertönte: „Tröste, tröste meinen Sinn, weil ich schwach und elend bin.“ Die Adventskerze brannte mit ruhigem Schein, und aller Augen hingen an dem papierenen Stern, von dem etwas ausging, das man nicht beim Namen zu nennen wusste. „Mit Ernst, o Menschenkinder, das Herz in euch bestellt“, erklang es von Neuem, nachdem der Pfarrer ein paar Worte der Erbauung gesprochen hatte. „Ein Herz, das Demut liebet, bei Gott am höchsten steht“ – wer hätte diesen Worten nicht geglaubt, wenn er diese einfachen Menschen sah, deren Leben Arbeit und Mühsal war! Aber Gott segnete ihnen dafür auch diese Adventsstunde, er, der selbst in einem Stall und nicht in einem Palast das Licht der Welt erblickte.

Die Chronik berichtet, die kirchliche Behörde habe gerne der Einrichtung dieser Gottesdienste, die nun alle vier Wochen stattfanden, beigestimmt. Mit Hilfe des Gustav-Adolf-Vereins wurde ein Harmonium beschafft, ein kleiner Altar wurde zusammengezimmert, für den bald ein Kruzifix, zwei Leuchter und eine Bibel geschenkt wurden. Jahre hindurch hielt man hier die Gottesdienste ab. Als 1907 auf dem Bischofstein ein Erziehungsheim eingerichtet wurde, musste man sich nach einem neuen Raum umsehen, den man nach einiger Mühe im Hause eines Katholiken fand. Es war eine Stube, in der mehr als 15 Jahre hindurch 20, ja 30 und mehr Menschen dem Gottesdienst beiwohnten. 1925 brauchte man diesen Raum zu Wohnzwecken. Nun kam ein katholischer Zimmermann zu Hilfe, der der kleinen Gemeinde in seinem Neubau ein Stübchen überließ, das aber noch kleiner war als der bisherige Raum. „Für den Geistlichen selbst“, so schreibt die Chronik, „war das Abhalten der Gottesdienste keineswegs leicht. Wenn er die 10 Kilometer zurückgelegt hatte, oft in sehr erhitztem Zustand, und dann auf dem Harmonium den Gesang begleitete, in wärmendem Talar, dessen Ärmel die Gottesdienstbesucher streiften, so eng war alles, das war oft sehr ermüdend. Und doch hat ein merklicher Segen auf diesen Gottesdiensten geruht.“ Ein Jahr danach wurde die Heilandskapelle eingeweiht, deren 26. Kirchweihfest die evangelische Kirchengemeinde heuer feierte.

„O dass ich tausend Zungen hätte und einen tausendfachen Mund,
so stimmte ich damit um die Wette vom allertiefsten Herzensgrund
ein Loblied nach dem andern an von dem, was Gott an uns getan.“


Dr. Johannes Müller
(Quelle: „Unsere Eichfeldische Heimat“, Beilage zum „Thüringer Tageblatt“, Nummer 244, Ausgabe vom 13./14. Dezember 1952)