Ein unkündbares Darlehen
Bearbeitet nach den Lengenfelder Gemeindeakten von Georg Leister
Im Mittelschiffe der Wallfahrtskirche des Hülfensberges ruhen in der Fürstengruft, in Zinksärgen verschlossen, die Gebeine des Landgrafen Christian von Hessen-Rothenburg-Rheinfels und die seiner Gemahlin Juliana. Der Landgraf, ehemals in Eschwege wohnhaft, war ein eifriger Verehrer und großer Wohltäter des Hülfensberges, der der Wallfahrtskirche reiche Stiftungen vermachte. Kurz vor seinem Ableben errichtete er noch ein Benefizium von 3000 Rthlr. zugunsten des Hülfensberges. Dieses Kapital wurde der Gemeinde Lengenfeld unterm Stein als Darlehen gegeben. Diese Anleihe soll nun Gegenstand der folgenden Ausführungen sein.
Die Stiftungsurkunde zu dem Benefizium von 3000 Rthlr., die im Staatsarchiv zu Marburg unter den Urkunden Hessen-Rothenburg-Rheinfels aufbewahrt wird, berichtet hierzu Folgendes:
„Damit nun aber die milde Stiftung zu ewigen Zeiten ohn verrückt befolget werden möge, so haben Ihro hochfürstliche Durchlaucht qua Fundator, (als Stifter) die in das churfürstliche Maynzische Amt Bischofstein würklich ausgeliehne 3000 Rthlr., an die unter gedachtem Bischofstein gelegene Gemeinheit Lengenfeld gegen einen Hochdemselben und von ermeldetem Amte Bischofstein authentisirten Revers cum omni actione et jure Hypotheca (beglaubigte Empfangsbestätigung mit allem Anspruch und Recht der Hypothek) darmit cediret (abtreten) und die darüber in Händen gehabte Original-Obligationes (Schuldverpflichtung) dergestalt extradiret (übergeben) dass ersagte Gemeinheit Lengenfeld von dato an und in perpetuum (von nun an und bis in ewige Zeiten) alljährlich 100 Rthlr. an das hochlöbliche Closter Annenrode, dieses aber nach Verfließung eines jeden Jahres den zeitigen Sacrifanten pro labore (für die Mühe des Priesters) wöchentlich zu lesenden drey heilige Messen 50 Rthlr abgeben, von den übrigen 50 Rthlr. aber nicht nur den nöthigen Wein, Wachs, Hostien und Paramenten verabreichen, sondern auch den Kirchendiener belohnen solle und wolle.“
In der Stiftungsurkunde des Landgrafen von Hessen-Rothenburg wird gefordert, dass die Gemeinde Lengenfeld einen „authentisirten Revers“, eine beglaubigte Empfangsbestätigung mit allen Ansprüchen und Rechte einer Hypothek, als Quittung für die erhaltenen 3000 Rthlr. ausstellen muss. Am 1. Juli 1755 wurde gemeinsam vom Amte Bischofstein und der Gemeinde Lengenfeld die Schuldverpflichtung in doppelter Ausfertigung angefertigt, vom Vogte des Amtes Bischofstein Anselm Daniel Härtung, vom Schultheiß Joh. Rheinländer, von den Gerichtsschöppen Hans Heinrich Wehenkel, Johann Richwien und von dem Vormund Kaspar Feddeler unterschrieben und mit dem Siegel des Amtes Bischofstein versehen. Die Urkunde besagt, dass das Darlehen von 3000 Rthlr. vom Landgrafen von Hessen-Rothenburg an die Gemeinde Lengenfeld gegeben, unkündbar sei, und die jährlichen Zinsen von 100 Rthlr. von nun an und auf ewige Zeiten am Ende eines jeden Jahres an das Nonnenkloster Anrode zu zahlen sind. Das Kloster, als Besitzer des Hülfensberges hatte achtzugeben, dass die Satzungen der Stiftung auch ausgeführt wurden.
Am 5. 6. 1810 wurde das Kloster Anrode von König Jerome in Kassel aufgehoben. Es war vorauszusehen, dass auch der Hülfensberg mit dem Kirchenfonds der Wallfahrtskirche säkularisiert würde. Deshalb wandte sich das Bischöfliche Kommissariat in Heiligenstadt in einer Eingabe an die französische Präfektur zu Heiligenstadt mit der Bitte, den Hülfensberg mit dem Kirchenfonds von dem Kloster Anrode abzutrennen. Der Präfekt entsprach dieser Bitte. Der Bischöfliche Stuhl zu Paderborn erwarb das Plateau des Hülfensberges käuflich. Alle bisherigen Rechte des Klosters Anrode an dem Plateau waren nun an den Bischöflichen Stuhl abgetreten. Der Hülfensberg wurde mit der Gemeinde und der Pfarrei Geismar vereinigt, so dass der Pfarrer zu Geismar den Kirchenfonds der Wallfahrtskirche mit den Stiftungen zu verwalten hatte. Der Lengenfelder Schultheiß wurde von dem französischen Präfekten in Heiligenstadt angewiesen, von un an die fälligen Zinsen von 100 Rthlr. an den Kirchenfonds des Hülfensberges zu zahlen.
Wozu die Gemeinde das geliehene Kapital verwandt hat, ist aus den vorhandenen Gemeindeakten nicht zu ersehen. Es ist anzunehmen, dass die Gemeinde mit Schulden belastet war, die sie damit abtragen wollte. Auch zur Linderung der zu jener Zeit herrschenden Not, kann die Anleihe gedient haben. Lengenfeld war keine wohlhabende Gemeinde. Ihre Einkünfte flößen aus den fälligen Steuern, den Pachteinnahmen der Gemeindeschänke, des Gemeindebackhauses und den Gemeindeländereien. Einen gemeindeigenen Wald besaß sie nicht. Eine schwere Belastung des Gemeindeetats, zu jener Zeit mit 400-450 Rthlr. Einnahmen, waren die jährlich zu zahlenden 100 Rthlr. Zinsen an den Hülfensberg. Auch für die Verpflegung und Unterbringung der Ortsarmen mussten jährlich 60-70 Rthlr ausgegeben werden.
Die Gemeindevorsteher haben des Öfteren in Eingaben an ihre Verwaltungsbehörden auf die schlechte wirtschaftliche Lage Lengenfelds hingewiesen, um einen Zinsnachlass der Anleihe zu erwirken; jedoch alle Gesuche blieben erfolglos. So haben mehrere Generationen Lengenfelds von 1753 bis 1945 mit dazu beigetragen, dass die Gemeinde den Verpflichtungen, die ihre Vorfahren gegenüber dem Hülfensberge auf sich genommen hatten, erfüllt wurden. Es möge auch erwähnt werden, dass am Hülfenstage, der Montag nach Dreifaltigkeit, seit jeher für die Gemeinde Lengenfeld auf dem Hülfensberge ein Amt gehalten wurde. Sobald die Lengenfelder Prozession auf dem Berge eingetroffen war, gingen die Teilnehmer zur Bonifatiuskapelle, wo ihre Messe gelesen wurde.
Als 1945 in den eichsfeldischen Dörfern die kommunistischen Verwaltungen sich bildeten, wurde in Lengenfeld die seit 190 Jahren bestehende Verpflichtung der Zinszahlung an den Hülfensberg aufgehoben. Somit wurde das Darlehen von 3000 Rthlr= 9000 DM, welches unkündbar und auf ewige Zeiten ausgeliehen war, annulliert.
Georg Leister
(Quelle: Eichsfelder Heimatstimmen, Nr. 6 – Juni 1971)