Ein Spaziergang (nach Lengenfeld unterm Stein, 1927)

Dem Geburtsort seiner Frau gewidmet

„Froh, des Zimmers Gefängnis entflohen“, schreit ich die Straße fürbass; grüße den Sandmann am Wege, grüße die ehrwürdige, mit Eisen beschlagene Linde, steige den Hügel hinan, winke dem scheidenden Turm und verfolge den schlängelnden Pfad, der hin zum Walde mich führt.

Freier wird mir, seit ich in den Regalen zurückließ die Folianten mit ihrem Soll und fürchterlichen Habe». In deinen Schoß, an deinen Busen, du stiller Wald, rette ich mich vor den Gläubigern der Korrespondenz prosaischen Stils: „Bei Durchsicht meiner Bücher“ oder gar: „Es scheint Ihrer Aufmerksamkeit entgangen zu sein“ usw. Unsinn! Unaufmerksamkeit war niemals meine Schwäche. Freilich, als die Welt verteilt wurde, Neureiche aus dem Boden wuchsen, war ich nicht da, hing besorgt nur mein Vaterland an dir, und bin nun bedrängt wie du.

Doch still nun, unnütze Klagen, schon künden die dürftigen Tannen den hohen schattigen Dom. Nun nimmt er mich auf. Würzige Luft umfängt mich, tief atmen die Lungen, es strafft sich die ganze Gestalt, die Spannkraft der Jugend kehrt zurück. Kanzeln seh‘ ich gebildet hoch oben in schwindelnder Höhe aus den Felsen kunstvoll gemeißelt, lausche andachtsvoll der stummen und doch so beredten Predigt. Und siehe dort durch der Zweige Lichtung über abfallende Gelände; das Dörfchen Faulungen stürzt sich von dem Felsen herab. Die Fichtenkarawane, hoch oben auf der talsperrenden Bergwand, trennt mich von den engeren Heimatsgefilden.

Fast elastisch nun schreiten die alternden Beine auf grünen Matten dahin. Doch nicht allein, neben mir ungeseh‘n wandeln die Geister, deren unsterbliche Werke ich einst zwischen Alme und Pader gepaukt. Und was der Jüngling in den Mußestunden gepflegt, nicht will es das Alter entbehren. So fließe denn Schillers „Spaziergang“ nun laut und pathetisch dahin. „Leihe Stimme dem stummen Gedanken, wecke die Helden von Sparta“, rühre selbst an die Not unserer Zeit. „Und die Sonne lacht durch der Zweige Grün“, deine Sonne Schiller, erhabener Geist! „Siehe sie lächelt auch mir“.

Doch schmal wird der Weg, den ich wahllos genommen und verschwindet, zottiges Gestrüpp hemmt den wandernden Fuß. Die schlanken Buchen verkümmern, hohes Dickicht umfängt mich, mit den Armen brech‘ ich mir Bahn. An den blutenden Händen merk‘ ich den strafenden Geist, dem Eindringling wehrend. Dunkel wird es, „Ambrosische Nacht"; doch unaufhaltsam strebe ich den steilen Felsen hinan. Vom jenseitigen Bergeseinschnitt winken einige Dächer von Struth, der Kirchturm, gar trostreich herüber, dem forschenden Auge entzieht ein neidischer Bergrücken Zella, doch am gigantischen Faulunger Stein labt sich der durstige Blick.

Und immer schroffer und wilder gestaltet sich der Berg, nimmt die Formen von Türmen und Pyramiden an. Nach Entwicklung ringt hier die Vegetation, auch Nahrung, die ihnen der felsige Boden nicht geben kann.

Endlich den Gipfel erstiegen; tief atme ich auf und schreite – da – ein Grab da! – ein Grab, gähnt vor den Füßen mir auf. Beuge mich über den Rand; in der Tat! ein Grab, regelrecht in felsigen Boden gehauen, von dunklem Moos überzogen. Wer grub dich? für wen? – die Antwort, ein klagender Ton, ein krächzender Schrei voll Schmerz, ohrenbetäubender Lärm. Die Kraniche des Ibikus? – Pardon! ich mordete den edlen Sänger von Rhegium nicht! – Ach sieh! ein Raubvogelgefecht drängt im Geäst zur Entscheidung. So entweiht der Krieg auch diesen weltentfremdeten Ort. Doch vom Völkerbund noch unberührt, leiht euch tapfern Kämpen der Lüfte die Natur allein noch Waffen und Gesetz.

Seitwärts biegend folge ich in der Etappe dem Kampf, die Strategie der Biester bewundernd. Zwei Raubvögel, beide an Mut und Kräften gleich, liefern da oben einen Zweikampf. Einer sucht den anderen zu überflügeln, um sich mit aller Wucht auf den Gegner zu stürzen. Hah! wie die Feder fliegen. Wer wird Sieger sein? Lange währt der Kampf. Endlich verlässt den Feind der Mut, flügellahm und matt krakelt er in der Gabelung der verkümmerten Hainbuche. Hageldicht nun fallen die Schnabelhiebe auf ihn nieder, der Kopf trieft von Blut. Ein markdurchdringender Schrei, von furchtbarem Schmerz zerrissen, rafft er die letzte Kraft zusammen und flieht ganz niedrig über das Steingeröll dahin. Fester fasse ich meinen Stock und folge – – da plötzlich entweicht mir unter den Füßen der Boden; ich greife hastig nach dem rettenden Zweig, vergebens, umprasselt von Kieselgestein gleit‘ ich die Fließen, hinab. Gottlob! der zottige Strauch hat Erbarmen und gebot ein energisches Halt. Von Wurzel zu Wurzel zieh ich mich mühsam hinauf, raff schnell mich empor und staune, umflossen vom rosigen Licht, in die herrliche Landschaft hinein, blicke schaudernd hinab, die Gefahr ernst ermessend, in der ich geschwebt.

Tief unter mir, im vom Tannengrün und Buchenblättern durchwirkten Laubdach, winkt ein Fähnlein mir zur Rettung gratulierend herauf.

Klar die Luft, blau der Himmel, nur wenige leichte Wolkentrabanten ziehen träg übers Gebirge, küssen den Turm von Effelder, der wie ein Phänomen dort hinter dem Berg auftaucht, das diesseitige Tal inspizierend, und grüßend den Klosterbruder trüben auf heiligem Berg. Grüßt auch die fromme Gemeinde der zahlreich niedern Gebirge im festlich grünen, teils ärmlich grauem Büßergewand.

Dem lieblichen Tal entlang blitzen die Strahlen des starren Geleises, aber getrennt durch die geregelten Felder, den friedlichen Bach, „schlängelt in freieren Windungen der weißschimmernde Streifen der Straße“ hier an der Hagemühle, dort an den Hängen vorbei das muntere Dorf Geismar zerknüpfend. Weiter schweift der Blick in unabsehbare Fernen, verfolgen im blauen Gebirg‘ die schlängelnden Schwaden des Bahnzugs. Es endigt im Äther die Welt.

Mir gegenüber am jenseitigen Berg, umrahmt von der Pappeln stolzen Geschlechtern, trotzt in passiver Resistenz ein Häuserkomplex mit kirchenfürstlichem Namen. Oben, aus des Waldes Geheimnis, tritt ein Forsthaus grüßend hervor.

Nun dehnen sich, das sanft aufsteigende Gelinde hinan, die farbenprächtigen geometrisch geordneten Felder. Dich Blankental, dich grüße ich, deine rötlich glänzende Scholle; die einst ein edles Kind betrat, ist geweiht.

Alles ist Leben, alles ist Bewegung. Mit bewunderungswürdiger Geduld schreitet der Landmann bedächtig hinter dem Pflug; sein aufmunternder Ruf wird von dem traumverlorenen Zugtier kaum merklich beachtet. Emsig dagegen bahnt sich die blinkende Sens« in das wogende Kornfeld den Weg! Schon fährt dort ein Ungetüm breitspurig hinein. Vom schwebenden Bock zügelt der Bursch mit lautem Hallo das Gespann. In der Mörderin Schoß, von unsichtbarer Waffe tödlich getroffen, sinken die Halme, und die träg im Kreise sich drehenden schlotternden Flügel werfen sie in gemessenen Reihen auf den Acker.

Von den Halden schwanken die kornbeladenen Wagen zu Tal; drängen an der Gabelung der Straße zum Denkmal von Stein, und aus des Schobers fachlosem Giebel tönt der Maschinen Gebrumm, der Lokomotive Gestöhn an mein Ohr.

„Tausend fleißige Hände regen, helfen sich im muntern Bund.“ Es staut sich das Stroh, füllt sich der Sack mit der goldenen Frucht. Die flinke Maid schon „spannt an des Wagens Deichsel die Kuh, der Nachbar schiebt vor, jene ziehet von dannen, und birgt der Mühe Preis in des Hauses, der Scheune, weitschauenden Giebel.“

Tief unter mir liegen die Häuser der Menschen.

Dich trauten, aus dem Mühlenbusch herüberwinkenden, weißgetünchten Giebel grüße ich. Versuche nicht, mich zu täuschen im veränderten Gewand, zu lebhaft weckt deine Fassade, deine Umgebung, die Erinnerung an Jugendliebe und Hoffen. Doch ach! ein fremder Geist waltet in den Räumen, die mir das Teuerste gaben, was je ich im Leben besaß.

Nun folgt das Aug« dem roten, zackigen Band der gepflegten Dächer, jäh dort durchbrochen von himmelanstrebenden, quadratgetürmten Pfeilern, durchbrechen brüsk diese der Häuser stattliche Reihe, trennen fast gewaltsam von der Straße den Bach. Hoch oben in schwindelnder Höh‘, von Gesims zu Gesims, schwingen sich kühn der Brücke gewaltige Bogen. Durch die gewaltigen Pforten, gleich dem Spielzeug der Riesen, zieht träg das Ochsengespann, jagen die Landauer, rattert das Auto, hasten die geschäftigen Menschen dem Tagwerk nach.

Ich lausche der disharmonischen, doch anheimelnden Musik des Dorfes: Leben, Freude, Arbeit. „Glückliches Volk der Gefilde: Deinem Tagewerk gleich, windet dein Leben sich ab.“

Ach Gott! Auch um diese traulichen Winkel schleicht lauernd das Unglück, frei aus offener Straße das Leid. Eben künden es die Glocken der Kirche am felsigen Berg. Nur durch den Hohlweg von dieser getrennt, meißelt die Furie in den rötlich schimmernden Stein die Opfer des Kriegs. Steigt das Leid doch selbst die Straßenböschung hinan, klopft an die Schwelle des begnadeten Dichters …

Siehe dorten die Stufen der Charitas hinan, auf dem Arm der Schwester gestützt, wankt die totkranke Mutter; der Pfortenring schließt sich hinter dem weinenden Kind.

Drüben, am nachbarlichen Bahnhof, aus den Armen der Frauen, reißen die Männer sich los, besteigen mit umfangreichen Koffern des Zuges Abteil, ziehen hinaus in die Fremde, Arbeit heischend und Brot für die Lieben daheim. Den teuren Herd noch einmal zu grüßen, umkreiset der Zug das freundliche Dorf. Schleicht leise unten an meinem Berge vorbei, setzt donnernd über die Brücke, pürscht am jenseitigen Gelände entlang, birgt spähend um den breitspurigen Felsblock, erschrickt mit gellendem Pfiff vor dem weitgähnenden Rachen des Bergs, und ist verschwunden, verschlungen mit der teuren Last.

Rückschweifend haftet der Blick, dicht hinter den Gehöften auf dem Friedhof mit seinen weißschimmernden Kreuzen.

Ruhet sanft, ihr Lieben! euer heiligstes Vermächtnis folgte längst euch im Tode nach, mit ihr der Sohn, ein Opfer des Weltkrieges. – Wir weinten.

Albert Fritsch, Diedorf
(Quelle: „Eichsfelder Sonntagsblatt – Blätter für Unterhaltung und Heimatpflege“ in: „Eichsfelder Tageblatt“, Ausgabe vom 25. September 1927)