Ein Guckloch in der Scheibe

Wenn in früherer Zeit der Winter in unserem Land eingezogen war und sein Zepter schwang, dann geschah es, dass in bewohnten Räumen, wenn sie kalt wurden, Eisblumen, einem bizarren Damastgewebe gleich, von innen an den Fensterscheiben erblühten. Sie waren von verschiedenen Motiven geprägt, und ich dachte und glaubte immer, dass es ein Maler schwer haben würde, wenn er sie in ihrer Vielseitigkeit und filigraner Beschaffenheit abzeichnen sollte.

In Räumen von Häusern, die nicht begangen und bewohnt wurden, da sprossen sie nicht an den inneren Fensterscheiben empor. Dafür aber in Schlafzimmern und in Küchen über Nacht. In der Küche begannen sie dann durch die Wärme des Ofens abzutauen, sich in Wasser aufzulösen. Schnell musste man dann sein, damit das Tauwasser nicht über die Fensterbank lief. Immer eifrig wischen und am besten ein zusammengefaltetes Handtuch auf die Fensterbank legen. Das Handtuch war hernach klatschenass und musste ausgewrungen werden, mitunter auch ausgewechselt durch ein anderes.

Reizvoll war es, wenn man ein Guckloch in die Eisblumen geschaffen hatte.
Ganz dicht musste man mit dem Mund an die Scheiben heranrücken, ihn rund formen und intensiv den warmen Atem mit einem geheimnisvollen „Huuuu“ darauf hauchen. Und das mehrere Male! So ergab sich denn ein kleines rundes Loch, durch welches man hinaus auf die Straße, den Hof usw. blicken konnte.

Viel war nicht zu sehen, aber immerhin hatte man ein Guckloch in der vereisten Scheibe. Das war schon eine tolle Angelegenheit, und es schien, als habe die Welt da draußen ein anderes Gesicht. War es noch recht kalt im Zimmer, dann wuchs das Loch in Sekundenschnelle wieder zu. Sollte es das nicht, dann musste erneut die warme Atemluft pausenlos eingesetzt werden.

Kratzte man jedoch mit dem Fingerchen am Reif der Eisblumen, hui - dann lief es einem eiskalt erschaudernd über den Rücken. Die wärmeschützenden Doppelfenster von heute lassen keine Eisblumen mehr entstehen, und die Menschen unserer Zeit haben auch kein Verlangen mehr danach.

Wenn die Zeit noch weiter schreitet, und wenn davon einstens erzählt wird, dann wird es schon Leute geben, die mit dem Kopf schütteln und meinen, was muss das für eine Generation gewesen sein, deren Kinder mit Begeisterung Löcher in die vereisten Fensterscheiben hauchten, um das kleine Stückchen Wunderwelt da draußen zu erblicken und mit Wonne zu bestaunen.

So hat denn jede Epoche ihr eigenes Gesicht, gleich, ob es gefällt oder auch nicht! Die Natur mit offenen Augen zu betrachten, ist wundervoll und kostet oftmals kein Geld!
Dass das eine oder das andere schön war, weiß man erst dann, wenn es vorbei ist und man es nicht mehr besitzt und es auch niemals wieder zurückkommt.

Anneliese Blacha