Die weiße Rose (Eine Legende)

In jener Zeit, als das Christkind geboren und der heilige Joseph durch die Warnung des Engels mit Maria und dem Kind auf der Flucht war, legten sie unterwegs eine Rastpause ein.

Die Mutter Maria wusch die Windeln in einem kleinen Fluss und hängte sie zum Trocknen über die Hecken der wilden Rose, welche als Abgrenzung um die Schafweiden in dichten Reihen standen.

Siehe da! Als sie die Windeln abnahm, verspürte sie von den Hecken einen angenehmen Duft herkommen, und sie sah: Kleine kissenartige Pölsterchen waren unter den Windeln gewachsen. Bis zur heutigen Stunde nennt man im Volksmund diese Verdickungen „Muttergotteskissen“.
Sankt Joseph nahm Maria und setzte sie wieder auf den Esel und gab ihr das Jesuskind in den Arm. Maria drückte es herzvoll an ihre Brust und hüllte es in ihren blauen Mantel ein. Weiter ging der Marsch. Am späten Nachmittag erreichten sie eine Schafherde. Ihr Hüter, ein zehnjähriger Junge, saß auf einem Stein und spielte lustige Töne auf einer selbst gebauten Flöte. Joseph hielt inne und fragte den Kleinen, ob es denn noch weit bis zum nächsten Ort sei.

„Oh nein“, antwortete der Hütejunge, „gleich hinter dem Hügel dort befinden sich mehrere Wohnstätten.“ Gleich rechts am Wege, am ersten Haus, da mögen sie klopfen. Dort wohnten Leute, zu denen sie gehen könnten. Der kleine Hirte stand wie geblendet, denn was er erblickte, hatte er noch niemals gesehen. Ein heller leuchtender Schein umgab die junge Mutter mit dem Kind. Sie öffnete den Mantel, und heraus blickte ein wunderschönes Kind, welches ihm holdselig entgegenlächelte. Danach setzte sich der kleine Trupp weiter in Bewegung: Der Mann, der an einem Strick den Esel führte, auf welchem die Mutter mit dem Kinde saß. So schnell ihn seine Füße trugen, lief der kleine Hirte zur Wohnstatt der Eltern.

„Mutter Rachel, Mutter Rachel!“, rief er erregt, „es kommen Leute, ein Mann mit Bart und ein Esel, und auf dem Esel sitzt eine Frau mit einem gar wundersamen Kind. Sie leuchten so hell wie die Sonne! Bitte, bitte gib ihnen Nachtberge, lass sie bei uns eine Bleibe haben.“ Und Mutter Rachel deckte den Tisch, sie holte Brotfladen und Schafskäse herbei und eine Kanne mit Schafsmilch. Inzwischen war die heilige Familie angelangt, und Mutter Rachel bewirtete sie. Der Hütejunge schaute immer wieder das Kind an, und abermals lächelte ihm das Kind entgegen. Von einem unsagbaren Glücksgefühl ergriffen, begab er sich zu seiner Herde zurück. Auch am anderen Tage lief er zwischendurch hin und wieder flugs nach Hause, er sehnte sich nach dem Anblick des Kindes. Jedes Mal, wenn er es ansah, schenkte ihm dieses ein Lächeln, was ihn so froh machte.

Plötzlich vernahm er von weither Pferdegetrampel. Drei Reiter mit langen Speeren sprengten heran! In eben diesem Moment befand sich die junge Mutter mit dem Kind auf dem Rasenplatz vor der Wohnstätte. Da - auf einmal, es öffnete sich die Erde, und heraus spross eilends eine Hecke und wuchs kreisförmig und dicht um die junge Mutter mit dem Kind herum. Sie bekam viele Blätter, und ihre Knospen öffneten sich zu weißen, wohlriechenden Rosen.

„Sind Knäblein hier?“, rief der eine Soldat und stocherte wild mit seinem Speer in der Luft umher.
„Wir wollen sie alle!“, rief der andere, ein wüster und haariger Gesell.

„Nachsuchen“, befahl der erste Soldat. Mit diesen Worten stürmten sie schreiend und tobend ins Haus. Der dritte Reiter, stiller und nicht so düster dreinblik-kend wie die beiden anderen, stand indes bei der Rosenhecke. Er hatte sich zurückgezogen, denn ihm taten die Knäblein Leid, die ihr junges Leben opfern mussten. Noch dazu übermannte ihn der süße Duft der Rosenhecke, wo es doch unmöglich war, dass um diese Zeit Rosen blühten ... Er pflückte eine der weißen Rosen ab und verbarg sie.

Inzwischen stürzten seine Kumpanen aus dem Haus, alles hatten sie in hellste Unordnung gebracht, förmlich das Unterste zuoberst gekehrt. Da fiel ihr Blick auf Joseph, der äußerst erschrocken am Türpfosten lehnte. Was das für einer sei und woher der wäre, wollte der eine wissen.

Man sehe es doch seiner Kleidung an, dass er nicht aus hiesiger Gegend käme. „Das ist nur ein armer Mann, der auf der Durchreise ist“, antwortete der Hausherr und zeigte auf den Esel. Der Esel habe sich einen Dorn in den Huf getreten und nicht mehr weiter gekonnt, und deshalb sei der Fremde zu ihm gekommen, und daraufhin habe er ihm angeboten, so lange bei ihnen zu bleiben, bis der Esel wieder richtig laufen könne. Wild galoppierend verließen die drei Reiter die Stätte.

Die weiße Rosenhecke wurde kleiner und kleiner, öffnete sich und heraus trat die Mutter mit dem Kind. Sie nahmen Abschied, dankten herzlich und reisten weiter in Richtung Nazareth.

Der Hütejunge konnte das Kind nicht vergessen. Oft erschien es ihm im Traume. Nach vielen Jahren begegnete er einem jungen Mann, der Jesus hieß. Als ihn dieser anblickte, meinte er, den Menschen zu kennen und ihm begegnet zu sein. Er folgte ihm wie von unsichtbaren Kräften in einen Bann gezogen und ward einer seiner engsten Vertrauten, ein Apostel.

Der Reiter schenkte die weiße Rose seiner Braut. Diese pflanzte sie ins Erdreich, und es erwuchs eine herrliche Hecke. Als der Reiter als Soldat in einen fernen Krieg ziehen musste, sagte er ihr beim Abschied: „Achte auf die weiße Rose: geht es mir gut, wird sie üppig wachsen und blühen. Sterbe ich, dann wird auch sie sterben.“ An einem Morgen fand die junge Frau die Hecke verdorrt am Boden, der Geliebte kehrte niemals wieder zurück.

Anneliese Blacha