Die verschwundene Wallfahrtskapelle Annaberg

War am 26. Juli wieder Annentag, wallfahrteten viele Südeichsfelder zu der, hoch über dem einstigen Benediktinerinnenkloster Zella, traumhaft schön gelegenen Annenkapelle. Ihr Erstbau geht wahrscheinlich auf die Jahre um 1600 zurück, als Propst David Böddener mit dem wirtschaftlichen Aufschwung auch die Bautätigkeit des Klosters vorantrieb. Die Zahl der Konventualinnen stieg auf ca. 25-30. Für die Kapelle wählte man einen weithin sichtbaren Platz auf einem Bergvorsprung. Grund und Boden schenkte ein unbekannt Gebliebener, zu dessen Ehren monatlich 4 Messen gelesen wurden. Flächenbezogen war das Areal ein beachtlich großes Vermächtnis, wenn von 72 im Kloster jährlich gelesenen Messen, 48 auf den Stifter des Annaberges entfielen. Anfangs war die Kapelle ein kleiner Fachwerkbau mit Nebengelass. Die Zunahme des Pilgerstroms veranlasste den Klosterkonvent, unter Beibehaltung des 1672 massiv gebauten Glockenturmes, 1713/14 die ursprüngliche Kapelle durch eine aus Stein ersetzen zu lassen. Verehrungsbezug war eine legendenumwobene spätgotische Anna-Selbdritt-Skulptur des 15. Jahrhunderts, die ursprünglich wohl im Kloster stand.

„Das Kloster hatte das Innere des Gotteshauses würdig ausgestattet. Betrat man die Kapelle durch das Westtor, befand man sich zunächst unter einem niedrigen Gewölbe, das auf 2 mächtigen Pfeilern ruhte. Zur linken Hand führte im Turm eine steinerne Wendeltreppe zur Empore und Orgel. In einer Mauernischezurrechten Seite befand sich das Gnadenbild. Hier brannten an den Wallfahrtstagen geopferte Kerzen in großer Zahl. Trat man wenige Schritte vor, stand man mitten im Kirchlein, umflutet vom hellen Licht, das 4 größere Fenster auf jeder Seite dem Inneren reichlich spendeten. Hier waren einige Kirchenstühle, Bänke und 5 Beichtstühle aufgestellt. Zu beiden Seiten führte je eine Turins Freie. Der geräumige Chor war durch die Kommunionbank abgeschlossen. Zur Rechten erhob sich die Kanzel. 3 ineinander gebaute, reich vergoldete Altäre vervollständigten den Schmuck des anmutigen Gotteshauses. Der Hochaltar war der hl. Anna geweiht und trug als besonderen Schmuck eine holzgeschnitzte Anna Selbdritt. Vordem Hauptaltar befand sich ferner ein Antipendium (Vorhang) aus Wolle, auf dem in Goldstickerei die hl. Sippe dargestellt war. Die hohe flache Holzdecke war mit einem Monumentalgemälde verziert. Auf blauem, mit Goldsternen übersätem Grund waren die 9 Chöre der Engel dargestellt. In dem Türmchen, dessen kupferbewehrtes Dach freundlich in das malerische obere Friedatal hinabgrüßte, hingen zwei Glocken.“ (Springmann 1936).

Heute ist die einst so würdige Wallfahrtsstätte am Berg fast vergessen. Tief unten im Tal leuchtet das Ziegelrot der neu gedeckten Dächer des ehemaligen Klosters Zella durch das Geäst des Bergwaldes herauf. Die sieben Kreuzwegstationen, die den steilen Anstieg vom Kloster zur Wallfahrtskapelle einst säumten, fehlen. Es braucht schon Vorstellungsgabe, um vergangene Generationen tiefgläubiger Menschen unserer Heimat hier bergan pilgern zu sehen. Beseelt von dem Wunsch, am Gnadenort Segen, Zuversicht und Kraft zu erlangen, frei von Mühsal und Krankheit zu sein, in den Herzen Hoffnung, das Leben mit Hilfe des Gnadenbildes bestehen zu können, machten sie sich wieder auf den Heimweg. Indes, wer kann schon wissen, was vor mehr als hundert Jahren die Wallfahrer bewegte, wenn sie zum Annenbild aufblickten, von hundertfachem Kerzenlicht in Gold getaucht. Auch das Kirchlein, das es barg, war ein romantisches Stück Heimat, dem frommer Sinn ein Refugium unter dichtem Lindendach gegeben hatte. Dem Kloster Zella inkorporiert (beigegeben), das zur Gründerzeit um 1175 (urkundlich 1215) Vridingisprinch = Fridenspringe hieß, weil es nahe der Friedebachquelle lag, befand sich die Kapelle in verlässlicher Obhut.

„Friedensspring liegt in einem tiefen, kühlen Grunde in großer Abgeschiedenheit. Rings von himmelanstrebenden Bergen umgeben, welche mit den schönsten, schattigsten Waldungen, die dicht bis an die Mauern des Klosters heranrücken, bedeckt sind, verdient es noch heute den Namen einer Zelle mit Recht. Heimlicher Waldfrieden umweht die Mauern und es herrscht nach allen Seiten hin eine unermessliche Stille. Nur die Nachtigallen schlagen in den dunklen Gebüschen und ihre klagenden Töne dringen tief in die Seele. Der Bach, welcher beim Kloster entspringt, rauscht mit so lieblichem Murmeln an den waldbeschatteten Mauern des Klosters dahin, daß in das Herz eines jeden, welcher einsam in den romantischen Umgebungen des Klosters umherwandelt, eine süße Melancholie einziehen muß ... Wenn wir das schöne in glückseliger Abgeschiedenheit liegende Thal verlassen, erblicken wir oben auf schwindelnder Höhe die ‚Annencapelle’, welche, über die schattigen Waldbäume hinweg, zu uns herabschaut und so romantisch liegt, wie nur ein Kirchlein in Tyrol oder Steyermark. An den Stationen vorüber steigen wir die waldige Höhe hinauf und gelangen zur Capelle, welche idyllisch zwischen alten Linden versteckt liegt und zu der besonders am St. Annentage gewallfahret wird. Sie ist, wie die Inschrift über der Thür berichtet, im Jahre 1714 erbaut worden.“(Duval 1845).

Nach Aufhebung der geistlichen Staaten in Deutschland fiel das von Mainz regierte Eichsfeld an Preußen. 1803 folgte aufgrund des Regensburger Reichsdeputationshauptschlusses die Säkularisation der Klöster. Kloster Zella kam unter preußische Observanz. Die Neuaufnahme von Novizinnen wurde untersagt. Der Ertrag aus den Klostergütern musste mit 15 % versteuert werden. Im Mai 1810 verfügte die französisch-westfälische Regierung in Kassel per Dekret die Aufhebung des Klosters. Doch gestattete der Domänendirektor Reiche den Nonnen, im Kloster bleiben zu können. Als dann im Mai 1811 das Kloster und dessen Gesamtbesitz verkauft wurden, mussten die Konventualinnen ihr altehrwürdiges Kloster verlassen. Nur der Propst und Kaplan blieben zurück. Letzterer betreute von hier aus die Struther Pfarrei bis 1824. Der Äbtissinenstuhl und später auch die Anna-Selbdritt-Skulptur kamen in die Pfarrkirche von Struth.

Die Käufer des Klosters mit Ländereien und Forsten waren die Mühlhäuser Kaufleute H. W. Röbling und dessen Enkel Askan und Wilhelm Lutteroth. Der Kaufpreis betrug 60.000 Taler. Sie überließen die Bewirtschaftung des Gutes dem Amtmann Chr. Herzberg, einem Neffen des Propstes. Während die Westhälfte der Kirche, mit einer Bretterwand vernagelt, Wagenremise wurde, diente der Chor weiter kirchlichen Zwecken. Die Wallfahrten zum Annaberg erfuhren keine Einschränkung. Zuständig war jetzt der Pfarrer von Struth.

Was fehlte, war der alte Konvent der Nonnen, der die Wallfahrtskapelle in „Bau und Besserung“ gehalten hatte. Ihr fügten die Unwetter über der südeichfeldischen Höhe im Laufe der Jahre erhebliche Schäden zu. Die Auslagen für dringendste Reparaturen beglich zumeist stillschweigend Chr. Herzberg. Als 1832 beim Eintreffen einer Prozession die Glocken geläutet wurden, lösten sich vom reparaturbedürftigen Dach am Turm Ziegel, erschlugen ein 13-jähriges Mädchen aus Struth und verletzten weitere Wallfahrer. Weil die Besitzer Reparaturarbeiten ablehnten und die Anliegergemeinden arm waren, begann die Annenkapelle endgültig zu verfallen. Hinzu kam ein permanenter Rechtsstreit der Gutsherren, die ihr Eigentumsrecht an der Kapelle als verbrieft betrachteten. Dafür fehlte im Kaufkontrakt von 1811 jedoch der ausdrückliche Bezug. Röbling, seit 1838 Alleinbesitzer des Klostergutes, drängte die bischöfliche Behörde in Heiligenstadt um eine zustimmende Erklärung. Stattdessen forderte der Kommissarius den Gutsbesitzer auf, sich jeden Eingriffs bis zur Regelung zu enthalten.

Kurz darauf ließ sich dessen Schwiegersohn E. Lutteroth den Kapellenschlüssel aushändigen, den bislang Annabergbewohner aufbewahrt hatten. Was Lutteroth sah, war wenig erfreulich. Während des Winters hatte die Annaberg-Schäferei Holz und Stroh in der Kapelle gestapelt und Wäsche getrocknet. Empört reagierte Lutteroth, dass die Kapelle ein Gotteshaus sei und als solches auch behandelt werden müsse. Im Juli 1840 ließ H. Röbling seine Enkelin in der Kapelle evangelisch trauen. Das Heiligenstädter Kommissariat protestierte. Wieder entflammte der Streit wegen der Kapellenrechte, inbegriffen der um den Schlüssel zur Kapellentür. Nachdem H. Röbling gestorben war, setzten seine Erben E. Lutteroth und dessen Sohn Wilhelm 1842 die Klage um die Rechte an der Annenkapelle fort. Folgenschwer für den Fortbestand der Kapelle war die Plünderung des Klostergutes in der Nacht vom 24. zum 25. März 1848 durch Struther Einwohner. Zum Verdruss der Gutsherren hatte ihr Pfarrer den in Zella entwendeten Kapellenschlüssel in Verwahrung genommen. Von den Gutsbesitzern Aufwiegler gescholten, schlugen ihm Revoltierende die Fensterscheiben ein, weil er sie zur Mäßigung ermahnt hatte. Einen Monat darauf entschied das Oberlandesgericht in Halberstadt denAnnen-kapellenprozeß zugunsten E. Lutteroths. Die Kläger hatten beigebracht, „daß der Kapelle, als Klosterzubehör, der Status eines kirchlichen Gutes genommen und in einen weltlichen, veräußerbaren überführt worden war.“

Nach Ablauf Chr. Herzbergs Pachtvertrag, ließ der neue Verwalter in der romanischen Klosterkirche Schweineställe einbauen. Eine Pietätlosigkeit, wie sie schlimmer nicht hätte sein können. Die Annenkapelle, jetzt im rechtsgültigen Besitz der Gutsherrschaft, unterlag ausschließlich deren Willkür. Ab sofort musste die Erlaubnis zur Kapellenöffnung eingeholt werden. Die Wallfahrtstage wurden reglementiert, „auch könne das Zertreten des Weidegrases an den Wallfahrtstagen nicht mehr geduldet werden.“ Erneuter Kompetenzstreit zwischen dem Struther Pfarrer Leineweber und dem Gutsbesitzer Lutteroth wegen der Wallfahrtstage war die Folge. Vorübergehend gestattet und wieder abgelehnt, ließ Lutteroth durchblicken, wer der Herr der Annenkapelle war.

Für die Durchführung von Annenwallfahrten verlangte er folgenden vom bischöflichen Kommissariat unterschriebenen und von der Regierung in Erfurt genehmigten Revers: „Das Bischöfl. Geistl. Kommissariat erkennt hiermit wiederholt das unbedingte Eigentumsrecht des Gutsbesitzers Wilhelm Lutteroth in Kloster Zella an den Kirchengebäuden auf dem St. Annaberge bei Zelle und dessen unbedingte Dispositionsbefugnis darüber, und zwar dergestalt an, daß es demselben nicht um Friedensleben willen, sondern von Rechtswegen frei- und zusteht, Kichengemeinden die gedachten Kirchengebäude behufs Abhaltung des Gottesdienstes ebenso vorzuenthalten, als ihnen die Benutzung zu diesem Zwecke auf vorgängige Bitte zu gestatten.“ Als dann im Februar 1855 das bischöfliche Generalvikariat in der Reverssache abschlägig beschied, teilte Lutteroth Pfarrer Leineweber in einem persönlichen Gespräch in Kloster Zella mit, dass die Annenkapelle binnen 4 Wochen geräumt werden müsse und geschlossen sei. Trotz intensiver Bemühungen des Pfarrers blieben dessen Rettungsversuche ohne Erfolg. „W. Lutteroth“, wurde gemutmaßt, „soll bereit gewesen sein, dem Bischof Konrad Martin die Kapelle persönlich als Geschenk zu übergeben. Doch als der Bischof 1857 in Struth firmte, habe er, Lutteroth, vergeblich auf dessen Besuch in Zella gewartet.“

Die Annenkapelle blieb verwaist. Als Lutteroth 1869 in wirtschaftliche Schwierigkeiten kam, verkaufte er das Klostergut an den Langensalzaer Kaufmann Weiß. Doch bevor er den Vertrag unterschrieb, ließ er verbittert die Annenkapelle durch den damaligen Pächter Keuthan abreißen.

Ehe die Unsinnstat ihren Lauf nahm, läuteten die Abbrucharbeiter ein letztes Mal die Glocken, die so viele Male zur Annenwallfahrt gerufen hatten. Eine Glocke kam in das Kloster der Barmherzigen Schwestern in Heiligenstadt, eine andere nach Dieterode. Auch Museen sollen Wertvolles übernommen haben. Die 7 Kreuzwegstationen gingen an den Lengenfelder Kaplan Schäfer, der sie am Weg von Hildebrandshausen zum Hülfensberg aufstellen ließ. W. Lutteroth starb wenige Jahre später verarmt und vereinsamt.

Die Wallfahrt zum Annaberg ist Vergangenheit. Das himmlische Kirchlein ist verschwunden. Sein einstiger Standort ist wieder Wiese. Staub sind die, die Besitz- und Rechtsansprüche über christliches und ethisches Handeln stellten.

SUMMUM IUS SUMMA INIURIA

Höchstes Recht kann höchstes Unrecht sein.

Wolfgang Trappe
(in: "Eichsfelder Heimatstimmen, Nr. 41/1997, S. 309-312)

Quellen:
F. Springmann, Der Annaberg bei Kloster Zella, 1936.
Carl Duval, Das Eichsfeld, 1845.
Bernhard Opfermann, Die Klöster des Eichsfeldes in ihrer Geschichte, 1961

Zugehörige Bildunterschrift:
Die Kapelle auf dem Annaberg im Jahre 1864. Zeichnung von Askan Lutteroth, Kunstmaler in Hamburg (mit Erlaubnis des Rittmeisters von Fries, Kloster Zella, 1936 veröffentlicht).