Die Schicksale des Äbtissinnenstuhles aus dem vormaligen Kloster Zella (1934)

Im Halbdunkel der unteren Empore, des sog. Mannhauses der Struther Pfarrkirche, leicht an die schadhafte westliche Turmwand gelehnt, fristet der alte Äbtissinnenstuhl aus Zella ein wenig beachtliches Dasein. Einsam und verlassen steht er wochentags da. Niemand sucht hier Platz, weil die hohe wuchtige Brüstung den Blick zum Altar verwehrt. Nur des Sonntags öffnet sich knarrend die kleine Tür, um ernste Männer einzulassen. Ein gütiges Geschick bewahrte den Chorstuhl vor der Vernichtung. Die Jahrhunderte sind an seinem Äußeren nicht spurlos vorübergegangen. Die prachtvolle Malerei ist teilweise zerstört. Von der Rückwand des Stuhles löste sich vor langer Zeit ein breites Brett, aus dem noch zwei Gemälde gut zu erkennen sind. Einige Jahrzehnte blieb es zwischen Stuhl und Turmwand verborgen und wurde erst nach Anfertigung der beigefügten Federzeichnung entdeckt. Das rechte Bild stellt die Himmelfahrt, das linke die Auferstehung des Heilandes dar.

Wir kennen nicht den Namen des Meisters, der diesen Chorstuhl arbeitete, noch wissen wir die Zeit, in der er in der Klosterkirche aufgestellt wurde. Die wenigen Akten, die von Zella uns geblieben sind, schweigen sich hierüber aus. Es ist vielleicht nicht unberechtigt, in dem zweisitzigen Chorstuhl das Werk eines heimatlichen, künstlerisch veranlagten Handwerkers zu vermuten. Sind doch auch die prachtvollen eichenen Stuhlwangen in der Struther Kirche von dem schlichten Schreinermeister Johannes Schlothauer geschnitzt.

Fast neun Jahrzehnte hat der ehrwürdige Stuhl in unserem Dorfkirchlein gestanden. Niemand wusste mehr um seine Geschichte. Sein Äußeres brachte ihm im Volksmunde den Namen „Kutsche“ ein. Was dem Menschengeist in der langen Zeit entfiel, davon erzählen die vergilbten Akten des Struther Pfarrarchivs.

Einstmals hatte der Chorstuhl im lichtdurchfluteten Chore der altehrwürdigen Klosterkirche in Zella den Ehrenplatz inne. Die jeweilige Äbtissin nahm Tag für Tag in diesem Gestühl mit ihrer Assistentin Platz, um der heiligen Handlung beizuwohnen. Jahrzehnte war es so. Dann brach über Zella das Unglück herein. König Hieronymus hob Zella durch das Dekret vom 13. Mai 1810 mit einem Federstrich auf. Am 22. Mai 1811 wurde das Kloster mit dem Wirtschaftsinventar und dem Grundbesitz, das Gut zu Felchta einbegriffen, an die Gebrüder Wilhelm und Askan Lutteroth und Heinrich Röbling in Mühlhausen für 60.000 Taler verkauft und am 5. Juni d. J. förmlich übergeben. Ausgeschlossen von dem Verkauf waren 2 silberne vergoldete Kelche, 1 Orgel und eine Turmuhr. Artikel 5 des Kaufkontraktes bestimmte wörtlich: Ganz ausgeschlossen vom Verkauf sind: „Die Kirchengefäße und Gerätschaften, so wie alle Kostbarkeiten, und was zur inneren Einrichtung und Zierde der Kirche gehört“. Die Struther Kirche erhielt damals nach der Schenkungsurkunde des Kommissarius Würschmitt vom 17. September 1811 die Stühle aus der Klosterkirche und das Gitter vor der Orgel aus dem Chore. Damals gelangten die einfachen Chorstühle und einige Kniebänke nach Struth, nicht aber der Äbtissinnenstuhl. Außerdem wurde der Kirche in Struth die Zellasche Orgel für 200 Taler überlassen. Bereits vor der Aushebung des Klosters war von dem Inventar manches mit Erlaubnis des Kommissarius an arme Kirchen verschenkt worden. So erhielt z. B. Struth den besten Kelch.

Die Nonnen mussten ihr trautes Friedenspring verlassen. Nur Propst P. Coelestinus Zander und der letzte Kaplan des Klosters, der spätere Pfarrer von Struth und Dechant des Lengenfelder Land-Kapitels P. Edmund Teitzel waren das Wohnungsrecht in Zella auf Lebenszeit eingeräumt. Nach dem Tode des Pfarrers Teitzel 1824 gesellte sich zu dem bejahrten Propst Zander Br. Gottfried aus dem aufgehobenen Franziskanerkloster Worbis. In dem verlassenen Kloster wohnten auch die ersten Pächter des nunmehrigen Gutes Zella, die Gebrüder Christoph und Friedrich Herzberg aus Weißenborn, Neffen des Propstes Zander. Wegen seiner hervorragenden Fachkenntnisse wurde Chr. Herzberg (+ 1836) bald zum Königlichen Amtmann und Kreistaxator für den Landkreis Mühlhausen ernannt. In der Familie seines Neffen fanden der bejahrte Propst und auch Br. Gottfried eine liebevolle Aufnahme. Das Dorf Struth hat dem treukatholischen Amtmann Herzberg sehr viel zu verdanken. Er unterstützte und half mit Rat und Tat gern den verarmten Höhenbauern. In der Blütezeit der Raschmacherei hatte man weite Flächen Landes brach liegen lassen. Durch Herzbergs Hilfe und Zureden wurden die wüsten Ländereien auf dem Steinerwald und auf dem Rode wieder unter den Pflug genommen. Sehr segensreich wirkte sich auch der unter Herzbergs Einfluss vermehrte Anbau von Futterkräutern, Klee und Kartoffeln aus.

Solange die katholischen Pächter Einfluss in Zella hatten, war das Chor der Kirche noch zu gottesdienstlichen Zwecken eingerichtet und durch eine Bretterwand von dem übrigen als Wagenremise bzw. Scheune eingerichteten Teile der Kirche getrennt. In dem kirchlichen Zwecke dienenden Chore befanden sich noch ein mit altertümlichen Gedecken behangener Altar und wertvolle Ölgemälde. Die ganze Einrichtung bewahrt noch immer viel altertümlichen Geist. Hier feierte Propst Zander in den ersten Jahrzehnten regelmäßig, als neunzigjähriger Greis, noch sehr häufig das hl. Messopfer mit seinem Ministranten Br. Gottfried. Regelmäßig besuchte auch die Familie Herzberg den Gottesdienst und benutzte die in Zella verbliebenen Chorstühle, auch unseren Äbtissinnenstuhl. Im Jahre 1847 verließ Friedrich Herzberg nach Ablauf der Pachtzeit Zella. Der bereits 90-jährige Priestergreis Coelestinus Zander wollte nun auch nicht länger hier bleiben. Er begab sich zu seinem Neffen, dem Pfarrer und Schulinspektor Gebhardt in Jützenbach. Dort starb er am 22. November 1849, 91 Jahre alt, an Heimweh nach dem alten Friedenspring im engen Waldtale, in dem er 53 Jahre seines langen Lebens Gott diente. Mit ihm ging der letzte Pater von Gerode, der letzte Ordenspriester der alten eichsfeldischen Klöster dahin.

Nun herrschte ein anderer Geist im ehemaligen Kloster. Administrator Achilles verwaltete für die Besitzer Lutteroth und Röbling das Klostergut. Die altehrwürdige Klosterkirche erlitt ihre tiefste Schmach. Sie wurde als Schweinestall und die Empore weiterhin als Scheune benutzt. Der bisher für gottesdienstliche Zwecke hergerichtete Teil wurde ebenfalls dem oben genannten Zwecke zugeführt. Die kirchlichen Einrichtungsgegenstände wurden aus der Kirche entfernt. Drei große Chorstühle, darunter der Äbtissinnenstuhl, einige Kniebänke und andere kirchliche Gegenstände wanderten in die Gerümpelecke des Klosterhofes, wo sie dem Verfall preisgegeben wären.

Im Frühling 1847 weilte der Besitzer Zellas, Wilhelm Lutteroth, längere Zeit dort. Damals lud er den erst seit dem 1. Juli 1846 in Struth amtierenden Pfarrer Peter Leineweber zu Tisch. Bei dieser Gelegenheit wünschte Lutteroth, mit dem Pfarrer die oben genannten Kirchenstühle zu besichtigen, die er der Struther Kirche zu schenken beabsichtigte. Leineweber folgte der in einem sehr freundlichen Tone gehaltenen Einladung nicht. Wahrscheinlich bewog ihn das gespannte Verhältnis zwischen Lutteroth und dem Dorf Struth, das durch die Beseitigung alter Gerechtsame aus der Klosterzeit seitens der neuen Besitzer Zellas und durch die Rechtsstreitigkeiten um die Wallfahrtskapelle auf dem Annaberge heraufbeschworen war, von Zella fernzubleiben.

Lutteroth war über das Verhalten des Pfarrers, das vielleicht auch auf persönlicher Abneigung beruhte, verärgert. Als dieser dann im Auftrage des Kirchenvorstandes einige Tage später Lutteroth in einem Schreiben eröffnete, dass die sich in Zella noch befindlichen Kirchenstühle auf Grund der Schenkungsurkunde des Kommissarius Würschmitt bereits Eigentum der Struther Kirche seien, verweigerte dieser selbstverständlich die Herausgabe. In seinem Schreiben vom 5. Juni 1847 beruft sich Lutteroth auf die Verfügung des Königlich Westfälischen Domänendirektors Reiche vom 10. Juni 1811, in der Kommissarius Würschmitt aufgefordert wurde, zwecks Übernahme der vom Verkauf ausgeschlossenen kirchlichen Gegenstände einen Termin anzuberaumen. In dem beigefügten Inventarium waren die von Pfarrer Leineweber beanspruchten Kirchenstühle nickt erwähnt. Weiterhin stützte sich Lutteroth auf ein Schreiben der Königlich Preußischen Landesdirektion 10. März 1816 und bezeichnete die Schenkung Würschmitt als einen Übergriff. Am Schluss desselben Schreibens erklärte er jedoch, dass er auch als Vormund der Röblingschen Erben gern befürworten wolle, dass die fraglichen Kirchenstühle der Kirche zu Struth unter der Bedingung geschenkt würden, dass die Benutzung derselben vorzugsweise den die Kirche besuchenden Bewohnern von Zella eingeräumt werde.

Am 23. Juli 1847 bat Pfarrer Leineweber das Kommissariat in Heiligenstadt um dessen geneigten Rat bzw. Vorschläge, wobei er bemerkte, dass die fraglichen Stühle unbrauchbar und deshalb wertlos seien und „alle im Ganzen nicht heruntergebracht und aufgestellt werden könnten“. Über die weiteren Verhandlungen liegen uns keine Nachrichten vor. Doch scheint das Kommissariat mit größerem Geschick Verhandlungen mit Lutteroth angebahnt zu haben und auch den notwendigen Platz in der Struther Kirche zur Unterbringung des Äbtissinnenstuhles gefunden zu haben. Wenige Tags später ließ Lutteroth durch seinen Verwalter Achilles den Pfarrer in Struth ersuchen, den großen Chorstuhl, gemeint ist unser Äbtissinnenstuhl, abholen zu lassen. Das geschah dann auch. Der Stuhl wurde unter dem Turme aufgestellt. Jahrzehnte hindurch verpachtete ihn nun die politische Gemeinde Struth zu ihren Gunsten.

Sie glaubte das Recht der Verpachtung für sich in Anspruch nehmen zu müssen, weil der Stuhl unter dem Turme untergebracht sei, der ja einstmals von ihr errichtet sei. Da die beiden Sitze reichlich bemessen waren, kam ein pfiffiger Gemeindevater auf den Einfall, durch Beseitigung der trennenden Wand einen dreisitzigen Stuhl herzustellen und so die Einnahme zu steigern. Diese Arbeit wurde von ungeschickter Hand getan, so dass die Rückwand erheblich beschädigt wurde. Nach der gerade vorliegenden Gemeinderechnung des Jahres 1855 erbrachte die Verpachtung 3 rthlr. ggr. 6 gps. Erst Pfarrer Gerhardy beseitigte 1878 diesen unwürdigen Zustand und ließ den Stuhl für die Kirchenkasse verpackten. Als im Jahre 1894 der Bildhauer Elend aus Niederorschel einige neue Kirchenstühle nach dem Vorbilde des alten Meisters Schlothauer anfertigte, musste der Äbtissinnenstuhl abermals die Stelle räumen. Es ist dem verstorbenen Dechanten Höppner zu verdanken, dass damals der Stuhl nicht vernichtet wurde. Unter großen Schwierigkeiten schaffte man ihn über die Brüstung der unteren Empore an seinen jetzigen Stand, da die Treppen viel zu schmal waren. Hier harrte der Stuhl seiner Wiederentdeckung. Durch notwendige Umbauten, es sollen auch auf der unteren Empore gestaffelte Sitz- und Kniebänke geschaffen werden, muss der alte Stuhl abermals weichen. Man beabsichtigt, ihn durch den Landeskonservator in Halle renovieren zu lassen und dann auf dem Chore aufzustellen. Der ehrwürdige Äbtissinnenstuhl wird im neuen Gewande ein Schmuckstück unserer Dorfkirche werden.

Franz Springmann
(Quelle: „Eichsfelder Volksblatt“, Ausgabe vom 20. Oktober 1934)

Quellen:

1. Pfarrarchiv Struth:

  • Acta betr. Die Kirche auf dem Annaberge
  • Acta betr. Die Annenkapelle, Prozessakten
  • Acta betr. Die Kirchenstellen in der Pfarrkirche zu Struth
  • Kirchenrechnungen von Struth

2. Bischöfliches Kommissariat: Acta betr. die Kirche auf dem Annaberge

3. Nolte: Ortschronik von Struth, umfassend die Zeit von 1800 – 1837

4. Gatzemeyer: Schul- und Ortschronik von Struth

5. Rechnung der Gemeinde Struth 1855

Literatur:

6. Knieb: Zur Geschichte des Klosters Zella in Unser Eichsfeld, 4. Bd. S. 13 – 22; 58 – 74

7. Duval: Eichsfeld