Die Sage vom Fräubchen von England

Kritische Bemerkungen zu dem Artikel: "Aus Ingarland wurde Engeland"

In dem Aufsatz, der sich mit der alten Eichsfelder Sage vom „Fräubchen von England“ befasst, wird der Versuch unternommen, die sagenhafte Begebenheit in bestimmte Zusammenhänge mit der Geschichte der Landgrafen von Thüringen zu bringen Dabei glaubt man, als Ergebnis einer solchen Betrachtung den Beweis erbracht zu haben, dass der etwa vorhandene geschichtliche Kern der Sage zunächst durch den „Volksdialekt“ und später durch „Romantiker“ verfälscht wurde. Ja, der Verfasser des Artikels geht so weit, dass er von einer „als unmöglich erwiesenen Sage“ spricht, wie er auch gleich zu Anfang seiner Ausführungen die Behauptung aufstellt: „Von ernsten Forschern und Historikern ist die Sage ins Reich der Fabeln verwiesen worden.“

Der Auffassung des Autors und der Art seiner Beweisführung muss aus mancherlei Gründen widersprochen werden.

Vorweg aber sei dieses festgestellt:

  • 1. Die Sage vom „Fräubchen von England“ erscheint unter den vielen Eichsfelder Sagen besonders wertvoll.
  • 2. Sie ist überall im Eichsfeld bekannt und wird allerorts erzählt.
  • 3. Dass die Sage in mehrfachen Varianten Oberkommen ist, beweist, dass sie wirklich aus dem Volke stammt und nicht von „Romantikern“ erdichtet wurde.
  • 4. Der Ursprung der Sage liegt weit zurück und ist ganz in Dunkel gehüllt. Als Karl Duval um 1830 die Sage bei seinen mannigfachen Wanderungen ins Eichsfeld kennenlernte, hat er sie in der Form niedergeschrieben, wie sie heute am lebendigsten im Volke erzählt wird. Ja, die Sage schien ihm so wertvoll, dass er sie sogar in einem Poem darstellte.
  • 5. Die Sage vom „Fräubchen von England“ ist so ansprechend, dass sie von Eichsfelder Pädagogen in die Schulbücher aufgenommen wurde.
  • 6. Da jeder Sage dort die Tore geöffnet werden, wo die Geschichte ins Dunkel tritt, so will hier unsere Sage die Zerstörung der Burg Stein erklären und den merkwürdigen „Frauenstein“ in der „Frauenruh“ bei Lengenfeld deuten.

Es erscheint uns aber notwendig – und das soll vor allem der Zweck meiner Ausführungen sein – die Argumente in der Beweisführung des oben genannten Artikels zu prüfen. Da muss nun festgestellt werden, dass der Verfasser recht vage Behauptungen aufstellt, die ohne jede Beweiskraft sind und dass er aus subjektiven Auffassungen heraus entscheidende Schlussfolgerungen zieht. Es wird in dem Aufsatz der Versuch unternommen, nachzuweisen, dass die Burg „Steyn“ zu Anfang des 13. Jahrhunderts den Landgrafen von Thüringen gehörte und dass die heilige Elisabeth auch daselbst „gewandelt“ sei. Was ernster und langer Geschichtsforschung nicht gelungen ist zu klären, das wird hier kühn und selbstsicher – freilich ohne jede Beweiskraft – behauptet.
Dr. Hermann Iseke, der das Leben der heiligen Elisabeth nachweislich gründlich studiert und poetisch dargestellt hat, schreibt vorsichtig „vielleicht – es könnte möglich sein“. Unser Verfasser stützt seine Behauptung, dass der Steyn zu Thüringen gehört haben dürfte, auf die Tatsache, dass der Steyn so nahe zur Wartburg liegt, so nahe, dass man an Sonnentagen „die Fenster der Wartburg glitzern sieht.“

Nun, ich bin in meinem Leben mehr als zwanzigmal auf dem Burgberg gestanden, ich habe dabei nie auch nur einen Schimmer von der Wartburg erspäht. Aber angenommen, es wäre so, wie der Verfasser behauptet, so ist das Argument der Nähe des Steyns zur Wartburg keinesfalls als schlüssiger Beweis für die oben genannte Behauptung anzusehen; ja, es würde auf diese Weise das gerade Gegenteil bewiesen, da die vom Autor selbst erwähnten Rivalen der Burg Steyn – etwa der Altenstein oder der Liebenstein – die viel näher zur Wartburg liegen, die Morgengabe für die junge Landgräfin Elisabeth gewesen wären.

So das wäre also die ganz fragwürdige Zugehörigkeit der Burg Steyn zu Thüringen. Da diese Verbindung also in keiner Weise bewiesen ist, wird auch allen daran geknüpften Vermutungen der Boden entzogen.

Und nun zu der sonderbaren Deutung des „Frauensteins“! Der Verfasser erkennt in der verwitterten Plastik des ehemaligen Feldgrabes in der „Frauenruh“ links des Kreuzes zwei Frauengestalten, rechts vermutet er auch eine solche. Wie, wenn man aber die Figuren anders deuten würde? Ich habe die Abbildung des Grabsteines zehn Lehrpersonen der Dingelstädter Zentralschule zur Beurteilung vorgelegt. Nicht eine davon hat sämtliche drei Gestalten als Frauen gedeutet. Fast alle waren aber der Meinung – und ich bin auch derselben Ansicht –, dass das Relief eine Kreuzigungsgruppe darstellen soll: Links Maria und Johannes, rechts Maria Magdalene. Die Deutung ist auch ganz naheliegend: sie weicht von der in der religiösen Kunst tausendfach geübten Darstellungsweise nicht einen Deut ab. So lässt sich der „Frauenstein“ wirklich nicht erklären.

Besonders kühn erscheint mir die Deutung der beiden Wappen auf dem Relief. Da das linke Wappen mit einem Kreuz geziert ist, heißt es sofort: „Also das Wappen eines Kreuzritters“. Der Verfasser scheint der Meinung zu sein, dass jeder Kreuzritter, oder doch die meisten, ein Kreuz im Wappen führte. Das wäre aber eine ganz falsche Vorstellung der Wirklichkeit; das Kreuz trugen die Ritter grundsätzlich auf den Mänteln, aber nicht im Wappen. So muss also auch der überraschende Schluss zurückgewiesen werden, „dass das Wappen unseres Frauensteines nur das Wappen eines Kreuzritters österreichischer Herkunft sein kann.“

Und nun noch ein Wort zu der Kombination: „Aus Ingarland wurde Engeland“. Der Name Ungarn wiederholt sich in der deutschen Sprache tausendmal. Wie soll es kommen, dass da eine Vertauschung ausgerechnet mit „Engeland“ erfolgt sein könnte. Ich habe die Wortprägung „Ingarland“ im Eichsfeld überhaupt noch nie gehört. Man stößt sich scheinbar vor allem auch an dem „König" von Engeland. Schon Duval erklärt, dass in den Varianten der Sage oftmals auch nur eine hochgestellte Persönlichkeit genannt wird. Es ist nun so, und das gehört zum Charakter der Sage, dass sie frei schaltet und waltet; aus einem bescheidenen Grafen macht sie auch wohl schon einmal einen König und aus einer fürstlichen Frau eine Königin.

Genug, die Sage vom „Fräubchen von England“ lebt. Sie lebt genau so fest im Eichsfeld wie in Thüringer Sagen in Thüringen und die Rheinsagen am Rhein leben. Sie ist alt und ehrwürdig. Sie ist ein Stück unseres Eichsfelder Kulturerbes. Niemand darf sagen, dass sie „unmöglich“ ist. Sie ist da und lebt und wird weiterleben, auch wenn man an ihr rupft und zupft. Aber das sollte man nicht tun. Und selbst wenn eine Sage sich nachweislich zu einer geschichtlichen Begebenheit im Widerspruch befindet, so lebt die Sage doch weiter, und selbst der ernste Historiker wird dann immer noch sagen: „Die Sage aber berichtet darüber Folgendes: …“.

Franz Hunstock
(Quelle: „Eichsfelder Heimatborn“ vom 13. April 1957)