Die Nonnenschleere
Wer hätte auf dem Eichsfelde noch nichts von dem Kloster Zella gehört? Wie ein versunkenes Märchen liegt es im lieblichen Waldtal. Weit und breit kein Laut. Hinter den stillen Klostermauern herrschte einst emsiges Leben. Gottbegeisterte Zisterzienserinnen [Korrektur: Benediktinerinnen] verrichteten hier aufreibende Arbeit im Dienste der Nächstenliebe. Wenn aber zu den Tagzeiten das silberhelle Aveglöcklein des Klosterkirchleins zum Gebet rief, ruhten die fleißigen Hände. Die frommen Seelen vergaßen dann auf kurze Zeit die irdischen Sorgen und vereinten sich zu andächtigem Gebet.
Wieder einmal hatte sich ein Tag seinem Ende zugeneigt. Wieder einmal hatte das Glöcklein zum Gebet gerufen, als der Schreckensruf erklang: „Wilde Soldatenhorden nahen und drohen mit Brand und Mord!“ Da war der Seelenfrieden dahin und verstört stoben die Ordensfrauen auseinander; galt es doch, so vieles zu retten! Eben wollte die letzte die fromme Stätte verlassen, als aus dem Waldesdunkel wilde Reitergestalten auftauchten. Wohin? Überall Berge, die das stille Tal umschlossen!
Schon sah sich die Unglückliche den raubenden Horden preisgegeben; schon sah sie den geliebten Ort von Flammen zerstört. Aber nein, sie wollte, sie durfte ihnen nicht in die Hände fallen, fürchtete sie doch, mehr als ihr Leben zu verlieren. Darum raffte sie schnell die Falten ihres weiten Gewandes zusammen, und mit Aufbietung all’ ihrer Kraft erklomm sie den steilen Abhang des Berges, den der Volksmund die „Klosterschranne“ nennt. Schon war der Gipfel erreicht, als sie hinter sich das Schnauben eines keuchenden Pferdes vernimmt. Ein Blick nach rückwärts – sie war verfolgt. Aber wohin und wie entfliehen? Vorn ein gähnender Abgrund – im Nacken den Unhold. „Gott, hilf mir, Heiland, errette mich!“, drängte sich’s über ihre Lippen, und damit wagte sie den Sprung in die Tiefe. Enttäuscht suchte der Verfolger seinem vorwärts stürmenden Tiere Einhalt zu gebieten. Es ließ sich aber nicht halten, und Pferd und Reiter verschwanden gleichfalls in der Tiefe. – Die Ordensschwester erreichte glücklich das offene Tal und war gerettet. Den Räuber aber fand man am Fuße des Berges mit zerschmetterten Gliedern. Im steil abfallenden Felsen hatte sich eine tiefe Furche eingegraben, sie ist, wenn man von Lengenfeld unterm Stein kommt, noch heute zu sehen, – und sie nennt man die „Nonnenschleere“.
Karl Walter
(Quelle: Obereichsfeldische Sagen, in: Eichsfelder Heimatborn, Band 3, ausgewählt von Roderich Wirbitzky. Druck und Verlag von F. W. Cordier, Heiligenstadt/Eichsfeld, 1924)