Die Kanonenbahn und der Lengenfelder Viadukt

Im Februar 1875 begannen die Vorarbeiten zu einem Projekt, dessen Verwirklichung mehr als 5 Jahre in Anspruch nahm. Der Bau einer Eisenbahnverbindung zwischen Leinefelde und Eschwege wäre wohl unterblieben oder verschoben worden, hätte nicht die Strategie des Kaiserreichs eine Rolle gespielt. Immerhin wurden für das Vorhaben 17 Millionen Mark ausgegeben. Der damals im Volksmund entstandene Name „Kanonenbahn“ für diese Eisenbahnlinie bringt den Sachverhalt äußerst treffend zum Ausdruck, denn ursprünglich war sie dafür gedacht, in Kriegszeiten die Hauptstrecken zu entlasten und einen ungehinderten Nachschub an die Westgrenze zu sichern.

Gewaltige Erdmassen mussten mit einfachen Geräten bewältigt werden. Pferde- und Ochsengespanne sorgten ständig für die Bereitstellung des nötigen Materials. Für den schwierigen und nicht ungefährlichen Streckenbau wurden vorwiegend Arbeiter aus Italien, Galizien und Kroatien angeworben.

Der einst so stille Westerwald hallte wider vom Arbeiterlärm und mehrsprachigem Stimmengewirr. Weil gelegentlich viel gezecht wurde, blieben unliebsame Zwischenfälle nicht aus. Mitunter kam es zu blutigen Schlägereien, so dass die Gendarmerie eingreifen musste.

Insgesamt 5 Tunnel mussten gegraben und einige hohe Brücken gebaut werden, um den Höhenunterschied auszugleichen. Das Friedatal bei Lengenfeld unterm Stein konnte nur über eine Schleife und eine lange Brücke passiert werden. Die Italiener, am Bau beteiligt, waren ja seit jeher Meister im Bauen von Viadukten.

Viele einheimische Saisonarbeiter schafften das Steinmaterial aus den Steinbrüchen von Eigenrieden und Struth herbei, die wegen ihrer harten Steine besonders begehrt waren. Aber auch aus Marth und Arenshausen wurden Steine geholt. Das Fuhrgeschäft hatte dadurch eine Blütezeit, denn nur mit Pferdefuhren konnte das Material von den Steinbrüchen und der Bahn transportiert werden. Man verstand auch, die Konjunktur gut zu nutzen, denn der Ackerbau wurde zweitrangig, und so mancher Bauer schaffte sich noch ein zweites oder auch drittes Pferd für das Fuhrgeschäft an.

Nach vielen Mühen und manchen Sorgen mit dem teilweise sehr lockeren Erdreich konnte die Bahn am 15. Mai 1880 dem Verkehr übergeben werden. Was die Benutzung der neuen Eisenbahnstrecke betraf, so waren vor allem viele ältere Leute zunächst noch sehr skeptisch und misstrauten dem dampfenden und fauchenden Stahlross auf Schienen.

Als die Bahn in Betrieb genommen wurde, waren nur die Bahnhöfe mit Güterverkehr Dingelstädt, Küllstedt und Geismar vorhanden. Die außerdem bestehenden Haltestellen wurden erst später nach und nach eingerichtet. So erhielt Lengenfeld unterm Stein 1886 seine erste Haltestelle gleich am Ende der Brücke. Der heutige Vollbahnhof wurde 1908 etwa 400 Meter westlich angelegt.

Die Brückenpfeiler des Lengenfelder Viadukts haben einen Umfang von 18 Metern, der sich nach oben verjüngt. Auf ihnen ruhen der Oberbau und das Tragwerk für die Fahrbahn. Die Bogen tragen die Eigen- und Verkehrslast; ein Bogenende ist befestigt, und das andere ruht auf einer Rolle, um auf Temperaturschwankungen ausgleichend zu reagieren.

In den schrecklichen Apriltagen 1945 rückte ein Pionierkommando der Wehrmacht heran, um den Viadukt in die Luft zu sprengen. Der damalige Bürgermeister Franz Müller aus Lengenfeld konnte die Sprengung durch eine kluge Verhandlungstaktik verhindern. So blieb dem Dorf unabsehbarer Schaden erspart, und dem südwestlichen Eichsfeld ist sein Wahrzeichen erhalten geblieben.

Dem Reisenden, der heute von Leinefelde aus mittels Eisenbahn auf dieser Strecke fährt, erschließt sich der ganze Reiz der obereichsfeldischen Landschaft mit ihrer Fülle an Naturschönheiten. Manche Geschichten aus der Zeit des Bahnbaues auf der Eichsfelder Höhe haben sich in mündlicher Überlieferung durch Generationen bis auf den heutigen Tag erhalten, und oft erzählen die Alten von der alten „Kanonenbahn“, die einen großen Teil des Eichsfeldes dem Verkehr erschloss und geschäftiges Leben in die stille Welt der Obereichsfelder Dörfer brachte.

Vinzenz Hoppe (1976)